Während seiner Wahlkampagne hat sich der französische Präsident Macron verpflichtet, eine öffentliche Debatte über Sterbehilfe und Suizid in Frankreich ins Leben zu rufen. Seit Jahren gibt es Debatten zwischen französischen Befürworter:innen und Gegner:innen einerGesetzesänderung zur Einführung der aktiven Sterbehilfe.
184 Bürger:innen kamen deshalb in einem Bürgerkonvent zusammen, um das Thema zu diskutieren und daran zu arbeiten. Der Konvent war ein großer Erfolg und zeigt, wie zukünftige Bürgerbeteiligung noch wirksamer gestaltet werden kann.
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Der zweite Bürgerkonvent des Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrates (Conseil économique, social et environnemental, CESE)
Während seiner Wiederwahlkampagne verpflichtete sich der französische Präsident Macron, eine öffentliche Debatte über Sterbehilfe in die Wege zu leiten. Seit Jahren bestehen Spannungen zwischen einer wachsenden Zahl französischer Bürgerinnen und Bürger, die eine Gesetzesänderung zur Einführung der aktiven Sterbehilfe befürworten, und jenen, die dagegen sind.
Am 13. September 2022 kündigte Macron deshalb eine nationale Debatte zur Erörterung dieser Frage an. „Wir garantieren die notwendige Zeit und die entsprechenden Rahmenbedingungen für eine geordnete, ruhige und vorurteilsfreie Debatte“, betonte in diesem Zusammenhang der Elysée-Palast. Premierministerin Borne beauftragte daraufhin den CESE mit der Einrichtung des Bürgerkonvents zur Sterbehilfe. 2021 wurde der CESE als Dritte Versammlung der Französischen Republik anerkannt. Der CESE hat ein beratendes Mandat, um mit den Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt zu treten und nationale Debatten zu führen. Im Rahmen des Mandats des Bürgerkonvents wurden die Bürger:innen aufgefordert, sich zu folgender Frage zu äußern:
Wird der bestehende Rahmen für die Unterstützung am Lebensende den unterschiedlichen Situationen gerecht oder sollten Änderungen vorgenommen werden?
Bürgerkonvent in Frankreich 2022–2023
- Der Bürgerkonvent zur Sterbehilfe begann mit 185 Teilnehmenden, eine Person hat den Konvent aus Arbeitsgründen verlassen.
- Beim Losverfahren zur Zusammenstellung einer für Frankreich repräsentativen Stichprobe wurden bei der Auswahl der Teilnehmenden die folgenden sechs Kriterien berücksichtigt: Geschlecht, Alter, Region (einschließlichfranzösische Überseegebiete), Bildungsniveau, sozio-professionelle Kategorie und Stadt/Land/ Stadtrand.
- Die Teilnehmenden des Konvents verpflichteten sich zur Teilnahme an insgesamt neun Wochenenden mit insgesamt 27 Tagen im Palais D'Iéna in Paris.
- Sie erhielten eine Vergütung und es wurden alle Kosten (Reise, Unterkunft, Verpflegung und Kinderbetreuung) übernommen.
- Der Abschlussbericht enthielt 65 Vorschläge und erhielt die Zustimmung von 92 Prozent der Teilnehmenden.
- Am Ende stimmten 76 Prozent der Teilnehmenden für die Einführung eines französischen Modells zur Beihilfe zum Suizid und für die Sterbehilfe innerhalb eines genau definierten Rahmens mit strengen Richtlinien.
- Die Kosten des Bürgerkonvents werden auf ca. 5 Millionen Euro geschätzt.
Wie lief der Bürgerkonvent ab?
Ein sich entwickelnder Mitgestaltungsprozess
- Die 184 französischen Bürger:innen, die durch ein demokratisches Auslosungsverfahren ausgewählt wurden, repräsentierten ein breites Spektrum an Perspektiven und Ansichten.
- Angesichts der Sensibilität des Themas wurde während des gesamten Prozesses darauf geachtet, dass Minderheiten ihre Sichtweisen und Erkenntnisse ausreichend einbringen können.
- Die ersten Sitzungen waren darauf ausgerichtet, ein Zugehörigkeitsgefühl zu schaffen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Im Abschnitt „Geteilte Überzeugungen“ des Abschlussberichts sind die Bereiche dargelegt, in denen ein Konsens bestand, während die Bereiche, in denen Divergenzen bestanden, in Unterabschnitten dokumentiert werden.
- Eine weitere bemerkenswerte Innovation des Bürgerkonvents war die Einbeziehung eines Teams von Grafikdesigner:innen, das den Prozess abbilden sollte. Dieses Team brachte auf eine für alle zugängliche Weise Humor, Einfühlungsvermögen und unterschiedliche Nuancen in die Sitzungen ein.
Empfang der Teilnehmenden im Elysée-Palast
- Präsident Macron empfing die Teilnehmenden im April 2023 im Elysée-Palast.
- Er forderte die Nationalversammlung auf, aufbauend auf dem Bericht des Bürgerkonvents bis Ende des Sommers 2023 einen Gesetzentwurf vorzulegen.
- Der CESE hat sich verpflichtet, innerhalb von sechs Monaten eine Folgesitzung mit den Teilnehmenden des Konvents abzuhalten. Die Mitwirkenden haben auch die Gründung des Vereins „Les 184“ in Erwägung gezogen, der sie in den kommenden Monaten bei ihrer Arbeit unterstützen sollte.
Eine Institution zur Leitung von Bürgerversammlungen
- Angesichts des Erfolgs des Bürgerkonvents kündigte Macron an, dass er den CESE für künftige Bürgerversammlungen zu anderen öffentlichen Themen von nationaler Bedeutung einsetzen will.
- Dieses beratende Gremium wurde als Dritte Versammlung der Französischen Republik anerkannt und hat den Auftrag, innovative Bürgerbeteiligung und öffentliche Konsultationen anzuleiten.
- Institutionen wie der CESE können so mit der Zeit die Zahl der Bürgerversammlungen in einem Land erhöhen und Plattformen für staatliche Stellen einrichten, die diese auf unterschiedlichen Regierungsebenen organisieren.
Vom CESE gezogene Lehren
Für die Zukunft der Bürgerversammlungen gibt es drei verbesserungsbedürftige Bereiche: die Auswahl des Themas, die Entwicklung solider Mitgestaltungspläne und die stärkere Verbindung mit der breiten Öffentlichkeit.
Um den Bürgerinnen und Bürgern mehr Befugnisse zu geben, sollten sie die Möglichkeit haben, Themen auszuwählen. Immer mehr deliberative Plattformen sehen Mechanismen vor, die den Bürger:innen ein Mitspracherecht bei einem Thema einräumen, wobei ein Gleichgewicht zwischen dieser Notwendigkeit und dem Vorhandensein eines politischen Willens hergestellt wird. Dies könnte zu mehr Interesse an bestimmten Themen führen.
In der Konzeptionsphase sollte ein Plan entwickelt werden, um die Bürgerversammlungen in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden. Die Teilnehmenden sollten ganz klar mehr Handlungsspielraum und Verantwortung während des gesamten Prozesses erhalten. Entsprechende Pläne, diesen Stimmen mehr Gehör zu verschaffen und sie in den Entscheidungsprozess einzubeziehen, gab es nicht, sie entwickelten sich erst nach und nach. Um für mehr Transparenz zu sorgen, sollten die Bürger:innen außerdem so früh wie möglich mit ihrem Engagement beginnen, um an der Gestaltung der Bürgerversammlung beizutragen.
Eine starke Verknüpfung zwischen einer Bürgerversammlung und der breiten Öffentlichkeit ist eine wichtige Komponente, die für mehr Legitimität sorgt. Einige Plenarsitzungen des Bürgerkonvents wurden per Livestream übertragen, nach der Lernphase konnte sich die Öffentlichkeit anmelden und persönlich an den Sitzungen teilnehmen. Die Pressekonferenzen mit den Teilnehmenden trugen ebenfalls dazu bei, den Bekanntheitsgrad des Bürgerkonvents zu erhöhen. Eine stärkere Fokussierung auf deren Profile wäre jedoch von Vorteil gewesen. Eine öffentliche Online-Aufklärungskampagne hätte eine stärkere Verbindung zwischen dem Konvent und der breiten Öffentlichkeit geschaffen.
Der Bürgerkonvent ist nicht der erste vom CESE einberufene Bürgerkonvent
Der Bürgerkonvent zur Sterbehilfe war die zweite nationale Bürgerversammlung, die in Frankreich
organisiert wurde. Die erste war der Bürgerkonvent für das Klima (2019-2020), der im Anschluss an die „Große nationale Debatte“ (2019) von Präsident Macron durchgeführt wurde.
Weitere Informationen zu diesen Verfahren finden Sie im Literaturverzeichnis.
Message to go:
Autoren
Marjan H. Ehsassi
mehsassi@berggruen.org
Lina Grob
lina.grob@outlook.de
Christian Huesmann
christian.huesmann@bertelsmann-stiftung.de
Weiterführende Literatur
Impressum
Demokratie und Zusammenhalt
© August 2023 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Prof. Dr. Robert Vehrkamp, Anna Renkamp
Titelbild: © Katrin Baumann / CESE
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Projekt New Democracy der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht es in unregelmäßigen Abständen.