Länderbericht Hessen

Fazit

Auf dem Weg zu einem Dienstleistungsflächenland mit einer vergleichbaren dienstleistungsaffinen Beschäftigtenstruktur wie in Hamburg zeigen sich für die berufliche Ausbildung mehrere Herausforderungen ab. Zunächst bleibt erst einmal festzustellen, dass es einem ökonomisch starken Land wie Hessen mit einer modernen Wirtschaftsstruktur seit Jahren nicht gelingt, ausreichend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Die Probleme äußern sich dabei nicht nur mit Blick auf die Quantität der Plätze, die unter der Nachfrage, in einigen Regionen sogar stark unter der Nachfrage bleibt. Sie äußern sich auch in berufsstrukturellen Mismatches zwischen Angebot und Nachfrage. In den meisten Berufsbereichen liegt ein Unterangebot vor, auch in Berufen, in denen bundesweit ein deutlich höheres Angebot als Nachfrage vorliegt, wird in Hessen allenfalls ein rechnerisches Gleichgewicht erlangt.

Wenig nachvollziehbar erscheint angesichts der unternehmensorientierten Dienstleistungsstruktur die ungünstige ANR in den kaufmännischen und IT-Berufen, die, sieht man von Schleswig-Holstein einmal ab, mit Nordrhein-Westfalen den vorletzten Platz einnimmt. Hier scheint zwar das Schulberufssystem eine leicht kompensatorische Funktion zu übernehmen, da dort in Hessen die kaufmännischen und informationstechnischen Assistenzberufe tendenziell zu höheren Anteilen als im Bundesdurchschnitt belegt sind, jedoch bleibt offen, ob damit der künftige Fachkräftebedarf hinreichend gedeckt werden kann. Da in diese Berufe zu einem großen Teil Jugendliche mit (Fach-)Hochschulzugangsberechtigung einmünden, deren Anteil in Hessen im Flächenländervergleich vorne liegt, könnte ein fehlendes Angebot an Jugendliche mit Hochschulzugangsberechtigung eine Umorientierung auf ein Studium befördern und langfristig den Arbeitsmarkt in Hessen auf der mittleren Qualifikationsebene vor Nachwuchsprobleme stellen. 

Zusätzlich erschweren regionale Ungleichgewichte im Ausbildungsangebot eine adäquate Bereitstellung von Ausbildungsgelegenheiten, die die Berufsbildungspolitik im Rahmen einer aktiven Steuerung bislang offenbar unzureichend berücksichtigt hat. Regionale Ungleichgewichte zeigen sich dabei nicht nur in der Streuung der ANR, sondern auch im Verhältnis von unbesetzten Stellen und unvermittelten Bewerbern insbesondere auf Kreisebene. Auf Passungs- und Vermittlungsprobleme verweisen dabei die unbesetzten Stellen und unvermittelten Bewerber in derselben Region innerhalb von Berufsgruppen, u. a. in Berufen von Verkehr und Logistik in Frankfurt (vgl. Kuse 2016). Die Berufsbildungspolitik in Hessen kommt unter der Perspektive einer künftigen Fachkräftesicherung ähnlich wie die von einer Dienstleistungswirtschaft geprägten Stadtstaaten nicht umhin, Lösungen für das Problem eines historisch auf Produktionsberufe ausgerichteten Berufsbildungssystems einerseits und dienstleistungsgeprägter Beschäftigungszuwächse andererseits, in denen die Ausbildungsaktivitäten nicht mit der Beschäftigungsentwicklung Schritt halten, zu finden. Zusätzlich kann die internationale Zuwanderung von Arbeitskräften in das Bau- und produzierende Gewerbe diese Diskrepanz noch verschärfen. 

Auf die anhaltenden Schwierigkeiten der Ausbildungsvermittlung von sogenannten Altbewerbern hat das Land Hessen mit strukturellen Maßnahmen reagiert, die die Effektivität ausgewählter Übergangsangebote verbessern sollen. Sie sind im Rahmen eines Schulversuchs der Berufsfachschule zum Übergang in Ausbildung implementiert, die die zweijährige und die einjährige höhere Berufsfachschule ablöst mit dem Ziel, Übergänge in Ausbildung stärker als bislang nach einem Jahr zu ermöglichen. Vorerst muss offenbleiben, ob sich mit einer vereinfachten Struktur und einer Individualisierung des Lernens die Ziele der Berufsvorbereitung erreichen lassen, Anschlüsse in Ausbildung zu schaffen und eine bessere individuelle Kompetenzentwicklung zu ermöglichen.

Eine vordringliche Aufgabe der hessischen Berufsbildungspolitik dürfte die Verbesserung der Chancengerechtigkeit für verschiedene Gruppen sein. Eine besonders schwierige Situation zeigt sich für behinderte junge Menschen, wenn sie einen der sogenannten Behinderten-Berufe nach BBiG§ 66 anstreben. Behinderte Jugendliche treffen in dem Bundesland auf eine der schlechtesten Angebots-Nachfrage-Relationen (66 %) im Vergleich der Flächenländer.

Angesichts der Tatsache, dass die Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund im besonders ausbildungsrelevanten Alter in Hessen unter den Flächenländern am größten ausfällt, gibt die für deutsche Jugendliche auffällig höhere Einmündungsquote in vollqualifizierende Ausbildung Anlass zur Sorge. Unabhängig von ihrer regionalen Verortung haben Jugendliche mit ausländischer Staatsangehörigkeit flächendeckend große Übergangsschwierigkeiten. Diese Unterschiede im Ausbildungszugang gehen zwar auch auf die geringere schulische Vorbildung zurück, das heißt, auf den geringen Schulerfolg von ausländischen Jugendlichen, allerdings bestehen auch unterschiedliche Ausbildungschancen bei gleichem Schulabschluss. Will Hessen diese Lücken ausgleichen, muss sich die Landespolitik dem Potenzial an Schulabgängern mit ausländischer Staatsangehörigkeit stärker zuwenden und zeitgleich in das Nachwuchspotenzial investieren.

 

Autoren: Prof. Dr. Martin Baethge, Dr. Maria Richter (Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen, SOFI); Prof. Dr. Susan Seeber, Dr. Meike Baas, Dr. Christian Michaelis, Robin Busse (Universität Göttingen).