Länderbericht Bayern

Fazit

Die Berufsbildungspolitik des Freistaats, des reichsten Flächenlands der Bundesrepublik, steht vor Fragen, die sich mit einer seit Jahren prosperierenden Wirtschaft auf Basis eines vergleichsweise hohen Industriebesatzes und der entsprechenden Beschäftigungsstruktur – neben Produktionsberufen hohe Beschäftigtenanteile in kaufmännischen und unternehmensbezogenen Dienstleistungen – unter den Bedingungen demografischen Wandels und eines angespannten Arbeitsmarktes stellen: den erwartbar noch ansteigenden (Fach-)Arbeitskräfte-Engpässen vorzubeugen, neue Arbeitskräftepotenziale zu erschließen und damit auch Ausbildungsbenachteiligungen zu vermindern. 

Nach den vorliegenden Daten gewinnt man nicht den Eindruck, dass die Ausbildungspolitik des Landes diesen Aufgaben mit gesteigerter Intensität nachginge. Zwar münden in Bayern aktuell mit 70 % mehr Jugendliche mit maximal Hauptschulabschluss in eine vollqualifizierende Ausbildung als in irgendeinem anderen Bundesland, wobei die Quoten nach den regionalen Arbeitsmärkten stark variieren. Zugleich aber verringerte sich seit 2013 die Zahl der Neuzugänge zum dualen System und stagnierte die zum Schulberufssystem. Der erneute Anstieg von Zahl und Quote der Neuzugänge zum Übergangssektor seit 2013 ist im Wesentlichen auf den starken Zuzug von Schutz- und Asylsuchenden zurückzuführen und bezeichnet eine neue zentrale Herausforderung der Berufsbildungspolitik. 

Im Vergleich mit anderen westdeutschen Bundesländern praktiziert Bayern eine eher zurückhaltende Reorganisation des Übergangssektors, dem für die berufliche Integration von Ausländern und sozial benachteiligten Jugendlichen hohe Bedeutung zukommt, mithin auch für die Erschließung neuer Arbeitskräftepotenziale. Sie beschränkt sich auf die Reduzierung der Zugangszahlen zu Berufsfachschulen ohne berufliche Abschlüsse um 20 % seit 2013 und auf eine im Vergleich mit anderen Ländern eher zurückhaltende Konzentration der berufsschulischen Übergangsangebote auf das Berufsvorbereitungsjahr bzw. die Berufseinstiegsklassen. Ob hiermit die erforderliche Erschließung neuer Ausbildungspotenziale gelingen kann, erscheint fraglich. 

Die Hauptprobleme der Erschließung neuer Fachkräftepotenziale liegen bei zwei Personengruppen: bei männlichen Absolventen mit maximal Hauptschulabschluss, insbesondere aber denen ohne Hauptschulabschluss, und bei ausländischen Zuwanderern. Frauen münden seit Längerem häufiger in eine vollqualifizierende Ausbildung ein als Männer, wobei starke Unterschiede nach Regionen auftreten, sodass hier auch ein regionalpolitischer Handlungsbedarf besteht. 

Auch wenn sich in den letzten Jahren ein Anstieg von Ausländern in der vollqualifizierenden Berufsausbildung als Erfolg bayerischer Berufsbildungspolitik vollzogen hat, bleibt die Differenz zu den Einmündungsquoten deutscher Jugendlicher 2015 mit 40 % – in einigen Arbeitsagenturbezirken noch deutlich darüber – beträchtlich. Zieht man die 2014/2015 im Zuge der Flüchtlingszuwanderung stark gestiegenen Zahlen von Ausländern im Übergangssektor hinzu und berücksichtigt deren mehrheitlich niedrigen Bildungsstand, dann gewinnt man einen Eindruck von der Größe der Herausforderung, vor der die Berufsbildungspolitik in Bayern steht. Aber die Herausforderung ist aus dem ökonomischen Interesse der Erhöhung des Fachkräftepotenzials ebenso wenig abzuweisen wie aus sozialen Gründen und zur Vermeidung politischer Delegitimation. 

 

Autoren: Prof. Dr. Martin Baethge, Dr. Maria Richter (Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen, SOFI); Prof. Dr. Susan Seeber, Dr. Meike Baas, Dr. Christian Michaelis, Robin Busse (Universität Göttingen).