Grüne Energie

Kohäsion unter Strom: Die Energiewende kann wirtschaftliche Ungleichheiten in Europas Regionen verringern

82 % der Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union stammen aus dem Energiesektor. Die Energiewende ist somit zentral für das Erreichen von Klimaneutralität, bringt gleichzeitig jedoch tiefgreifende Veränderungen für Europas Wirtschaft mit sich. In unserer neuen Studie Energising EU Cohesion berechnen wir die Effekte der Energiewende auf Beschäftigung und Wertschöpfung in Europas Regionen. Es zeigt sich, dass insbesondere ländliche Regionen profitieren, während städtische Regionen vor Herausforderungen gestellt werden. Wenn die Energiewende zum Vorteil aller Regionen stattfinden soll, muss die europäische Kohäsionspolitik deshalb breiter gedacht werden als bisher.

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Dr. Thomas Schwab
Project Manager

 

Klimaneutralität und der Energiesektor

Energie ist nicht nur allgegenwärtig in unserem Leben, sondern auch unverzichtbare Voraussetzung für praktisch jede wirtschaftliche Aktivität. Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wie Kohle, Gas und Erdöl bei der Energieerzeugung unterstreicht die Schlüsselrolle des Energiesektors für die Erreichung von Klimaneutralität: Aktuell verantwortet dieser 82 % der Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union (EU). Das zeigt die Notwendigkeit der Transformation hin zu erneuerbarer Energie zur Erreichung der ehrgeizigen Ziele des europäischen Green Deals.

Seit 2005 hat sich der Anteil erneuerbarer Energie in Europa mehr als verdoppelt und ist von 10 % auf 22,1 % im Jahr 2020 gestiegen. Um die Klimaneutralität im Jahr 2050 zu erreichen, muss jedoch innerhalb der nächsten 30 Jahre das aktuelle Niveau mehr als vervierfacht werden. Als Zwischenziel fordert die RePowerEU-Initiative, dass 42,5 % – idealerweise 45 % – der Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen stammen sollen, was einer Verdoppelung innerhalb des laufenden Jahrzehnts entspricht.

Die Transformation hin zu erneuerbarer Energie geht über das bloße Aufstellen von Sonnenkollektoren und Windrädern hinaus. Sie leitet einen tiefgreifenden Strukturwandel in den europäischen Volkswirtschaften ein. Der Ausbau erneuerbarer Energie geht einher mit einer Verringerung des Einsatzes fossiler Energie. Dies führt zu einem Rückgang der Wertschöpfung und der Beschäftigung in Wirtschaftssektoren wie der Erdölindustrie, während die Aktivitäten in Bereichen wie der Produktion und Installation von Solarzellen zunehmen.

Darüber hinaus sind alle Bereiche der Wirtschaft durch Energiepreise und Verflechtungen mit den betroffenen Sektoren von der Energiewende betroffen. Hier gibt es jedoch Unterschiede zwischen europäischen Regionen, insofern als die jeweiligen Wirtschaftsstrukturen unterschiedliche finanzielle Spielräume bieten, um die Energiewende umzusetzen.

Regionen in der Mitte Europas, darunter Deutschland, Österreich, Norditalien und Skandinavien, weisen den höchsten wirtschaftlichen Entwicklungsstand auf, gemessen am Pro-Kopf-BIP. Im Gegensatz dazu weisen die Regionen in Osteuropa und Südeuropa ein vergleichsweise niedriges Niveau auf.

In ost- und südeuropäischen Regionen ist die Treibhausgasintensität besonders hoch. Damit müssen diese Regionen noch einen weiteren Weg mit größeren Herausforderungen für die Dekarbonisierung bis zur Klimaneutralität bestreiten. Gleichzeitig weisen viele dieser Regionen ein hohes Maß an Sonnenstunden und Windfenster auf, was – zusammen mit anderen Faktoren – ein hohes Potenzial für die Erzeugung erneuerbarer Energie bedeutet.

Auf den ersten Blick ist unklar, ob Regionen mit hohem Transformationsbedarf aber großem Potenzial für erneuerbare Energie durch die Energiewende wirtschaftlich profitieren können. Mit unserer Studie tauchen wir ein in die Komplexitäten der Energiewende für Strom, Wärme und Verkehr. Wir analysieren, wie sich der Ausstieg aus fossiler Energie, der Ausbau erneuerbarer Energie und die zugehörige Umgestaltung des Energiesystems (insbesondere die Umgestaltung von Übertragungsnetzen und der Ausbau von Speichermöglichkeiten) auf die regionalen Volkswirtschaften in Europa auswirken. Dabei fokussieren wir uns auf die entstehenden Trends in der regionalen Entwicklung und die Auswirkungen auf den wirtschaftlichen Zusammenhalt in Europa.

Neue Perspektiven für ländliche Regionen in der Energiewende

In unserer Studie berechnen wir die volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer vollständigen Transformation hin zu erneuerbarer Energie. Unsere Analyse berücksichtigt sowohl die negativen Effekte, die sich aus dem Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energien ergeben, als auch die positiven Effekte des Ausbaus erneuerbarer Energieerzeugung. Darüber hinaus gehen die indirekten Auswirkungen auf andere Wirtschaftssektoren in die Berechnungen ein.

Während die Energiewende kaum Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Wertschöpfung in der Europäischen Union hat (marginaler Rückgang von -0,1 % bzw. -0,3 %), finden wir erhebliche Unterschiede in den Regionen. Die Energiewende führt bis ins Jahr 2050 zu Veränderungen in der Wertschöpfung pro Kopf zwischen -2.450 EUR und +1.570 EUR und bei der Beschäftigung zwischen -2,1 % und +4,9 %.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Regionen in der Peripherie in der Lage sind, teils erheblich zu profitieren. Insbesondere den ländlichen Regionen in Zentralfrankreich, die Randgebiete in Osteuropa und die Regionen entlang der Nord- und Ostseeküste kommt ihr reichhaltiges Windenergiepotenzial zugute. In ähnlicher Weise können die Mittelmeerregionen in Süditalien, Griechenland und Spanien ihr Solarpotenzial besonders ausschöpfen. Im Gegensatz dazu müssen die Regionen um die Alpen und im Norden damit rechnen, im Zuge der Energiewende wirtschaftliche Rückschläge zu erleiden.

Ausschlaggebend dafür, ob eine Region profitiert oder nicht, sind ihre Wirtschaftsstrukturen und ihr Potenzial für die Erzeugung erneuerbarer Energie. Besonders vorteilhaft ist das Szenario für weniger entwickelte ländliche Regionen, in denen die Industrie von der Umstellung auf erneuerbare Energien erheblich profitieren kann. Die Ausschöpfung ihres großen Potenzials für erneuerbare Energiegewinnung bringt zusätzliche wirtschaftliche Impulse. Städtisch geprägte Regionen, die in absoluten Zahlen einen höheren Energiebedarf haben, sind hier im Nachteil. Diese Umstände führen zu vergleichsweise höheren Kosten für erneuerbare Energie in städtischen Regionen.

Was bedeutet das für den wirtschaftlichen Zusammenhalt zwischen Europas Regionen?

Die Energiewende hat Auswirkungen auf die wirtschaftliche Kohäsion in Europa. Wir finden einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Grad der wirtschaftlichen Entwicklung und den Effekten der Energiewende: Je entwickelter eine Region heute ist, desto geringer sind die positiven Effekte. Wirtschaftlich schwächere Regionen, viele von ihnen ländlich geprägt, profitieren am meisten von der Energiewende. Für die wirtschaftlich stärksten Regionen, meist Städte, finden wir häufig negative Effekte. Damit kann die Energiewende zu einem Rückgang in den wirtschaftlichen Ungleichgewichten zwischen den europäischen Regionen führen, aber unter umgekehrten Vorzeichen: Ländliche Regionen holen auf während städtische Regionen Rückschläge einstecken müssen.

Insgesamt finden wir für 109 von 213 (51 %) Regionen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Entwicklung, wobei wirtschaftlich schwächere Regionen besonders stark in dieser Gruppe vertreten sind. Die durchschnittliche Veränderung in allen Regionen bei der Wertschöpfung pro Kopf beträgt 10 EUR und bei der Beschäftigung 0,3 %. Dies führt zu einer größeren Konvergenz zwischen den Regionen und zu einer Verringerung der territorialen Ungleichheit in Europa um etwa 1 % – ein bemerkenswertes Ergebnis auf dem Weg in eine nachhaltigere Zukunft. Ein Pferdefuß aber bleibt: In einigen wirtschaftlich stärkeren Regionen wird möglicherweise der wirtschaftliche Wohlstand abnehmen.

Kohäsionspolitik ist gefragt in der Energiewende

Die Umstellung auf erneuerbare Energie verändert die wirtschaftliche Dynamik in den europäischen Regionen. Kohäsionspolitik, in ihrer Funktion als vertraglich verankerter Auftrag zur Abschwächung territorialer Ungleichheit, ist in der Energiewende gefragt. Sowohl die auftretenden Herausforderungen in den wirtschaftlich stärkeren Regionen städtischen Regionen müssen adressiert als auch die Potenziale in den wirtschaftlich schwächeren Regionen gehoben werden. Das erfordert einen breiteren und anpassungsfähigeren Ansatz der Kohäsionspolitik, der alle europäischen Regionen einbezieht. Dabei müssen Unterstützungsmechanismen an die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Arten von Regionen angepasst werden, was einen nuancierten und diversifizierten Einsatz politischer Instrumente erfordert.

Insbesondere wirtschaftlich schwächere, meist ländliche Regionen können durch verstärkten Wissensaustausch, technischer Unterstützung und – natürlich – großflächigen Investitionen profitieren. Durch die Bündelung von finanziellen Mittel aus kohäsionspolitischen und energiepolitischen Töpfen können Investitionen verstärkt und dabei Fortschritte in beiden Politikfeldern erzielt werden. Schwerpunkt dabei muss sein, die finanziellen Mittel in die Regionen mit dem höchsten Bedarf zu lenken und sicherzustellen, dass die positiven Effekte auch in diesen Regionen bleiben. Innovative Konzepte wie Energiegemeinschaften können dabei einen wichtigen Beitrag leisten, indem lokale Akteure sowohl mitwirken als auch profitieren können.

Wirtschaftlich stärkere städtische Regionen stehen vor unvorhergesehenen Herausforderungen, die ein proaktives Management erfordern. Das Risiko, wirtschaftlichen Wohlstand zu gefährden, stellt ihr Engagement für die Energiewende in Frage. Eine weiter gedachte Kohäsionspolitik, ausgestattet mit geeigneten Instrumenten, ist daher gefragt, um sowohl den vertraglichen Auftrag für wirtschaftliche Konvergenz als auch die breite Unterstützung für die Energiewende sicherzustellen.

Städtischen Regionen mangelt es zwar meist nicht an finanziellen Mitteln, doch sind sie häufig eingeschränkt in ihrem Potenzial zur Gewinnung erneuerbarer Energie. Ländliche Regionen hingegen mangelt es allzu oft an finanziellen Mitteln, weisen aber großes Potenzial zur Erzeugung erneuerbarer Energie aus. Kooperationen könnten also der Schlüssel für eine Energiewende zum Vorteil aller Regionen sein: Städtische Regionen können ihren Bedarf an erneuerbarer Energie abdecken, während ländliche Regionen die dringend benötigte Investitionssicherheit zum Ausbau erneuerbarer Energie bekämen. Das Konzept der Renewable Energy Partnerships von Interreg zeigt auf, wie derartige Kooperationen in der Praxis umgesetzt werden könnten.

Der Erfolg des europäischen Green Deal geht über das schnelle Erreichen von Klimaneutralität hinaus. Es muss verhindert werden, dass Regionen während dieser Transformation zurückfallen. Gelingt dies nicht, ist nicht nur die breite Unterstützung für den Green Deal gefährdet, sondern auch der Klimaschutz und der europäische Zusammenhalt. Der Kohäsionspolitik kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, um einen erfolgreichen Übergang zu einer nachhaltigen Zukunft zu gewährleisten.