Premiertreffen: Xi Jinping und andere

Was der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas für uns bedeutet

Auf ihrem 19. Parteitag stellte die Kommunistische Partei Chinas die inhaltlichen Leitlinien und das Führungspersonal für die nächsten fünf Jahre vor. Womit müssen Deutschland und Europa künftig rechnen? Drei Thesen unseres Asien-Experten Bernhard Bartsch

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1. China wird immer schwerer einschätzbar, weil Xi Jinpings Parteizentrale eine Blackbox ist

Der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas, der vom 18. bis 24. Oktober in Peking stattfand, ist großes Politkino. Doch in Wahrheit wissen wir nur wenig darüber, was in Chinas inneren Machtzirkeln passiert. In keinem anderen großen Land laufen zentrale Entscheidungsprozesse so konsequent im Verborgenen ab wie in China. Aus europäischer Sicht bedeutet das: Einer der mächtigsten Akteure der Weltpolitik und -wirtschaft lässt sich immer schwieriger einschätzen.

Die Undurchdringlichkeit der Parteistrukturen ist keineswegs neu. Aber unter Staatspräsident Xi Jinping ist China noch ein Stück intransparenter geworden. Seine Vorgänger Hu Jintao und Jiang Zemin regierten als primus inter pares, als Erste unter Gleichen, die zwischen verschiedenen Interessen und Überzeugungen moderierten. Fraktionen und Richtungskämpfe ließen sich von außen zumindest schemenhaft erkennen, etwa Hus Rivalität mit seinem liberaler gesinnten Premier Wen Jiabao, oder unter Jiang das Ringen um das richtige Maß marktwirtschaftlicher Öffnung. Im Rückblick wirken diese Jahrzehnte geradezu wie eine Ära gelebter Vielfalt.

Xi dagegen ist es gelungen, viel mehr Macht auf seine eigene Person zu konzentrieren und die klare Kür eines Nachfolgers zu verweigern. Sogar eine dritte Amtszeit scheint möglich, was ein radikaler Bruch mit den Parteikonventionen wäre. Ob es tatsächlich dazu kommt, wird sich erst beim nächsten Parteitag in fünf Jahren zeigen. Doch schon die Spekulationen über Xis Rolle in der Partei zeigt die große Verunsicherung darüber, wie die Macht in Peking verteilt ist.

In China selbst können solche Diskussionen nur noch im Privaten geführt werden. Die Räume für unliebsame Fragen oder gar offene Kritik sind unter Xi Jinping kleiner geworden. Der norwegische Politologe Stein Ringen hat für Xis China den Begriff "Kontrollokratie" geprägt: ein System, das mit seiner annähernd absoluten Macht über Medien und Internet alle Diskurse mitverfolgen, steuern und gegebenenfalls unterbinden kann.

Diese Einschränkungen prägen auch den internationalen Austausch: Chinesische Think Tanks und Wissenschaftler, die zu politischen oder gesellschaftlichen Themen arbeiten, treten heute deutlich vorsichtiger und systemkonformer auf. Zivilgesellschaftliche Kontakte sind durch das 2017 in Kraft getretene "Gesetz zur Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen" enorm eingeschränkt worden. Auch die Arbeitsbedingungen für internationale Medien haben sich verschlechtert, von chinesischen ganz zu schweigen.

Die Signale des Parteitags deuten darauf hin, dass sich an diesem Kurs nichts ändern wird. Xi Jinping hat seinen Herrschaftsstil gefunden und die Partei darauf geeicht. Die wichtigsten Entscheidungen werden in einer Blackbox getroffen.

Das schürt im Ausland Skepsis oder gar Verschwörungstheorien, besonders auch in Deutschland, das mit China wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich so stark verbunden ist wie kein anderes europäisches Land. Welche Absichten verfolgt China mit seinen Auslandsinvestitionen? Welches geopolitische Kalkül steckt hinter der Seidenstraßeninitiative? Was für ein Spiel spielt Peking in Nordkorea? Ängste und Unsicherheiten belasten auch die vielen Bereiche und Projekte, bei denen beide Seiten bestens zusammenarbeiten können.

Europäische Politiker oder Interessensverbände können derzeit leider wenig mehr tun, als in China immer wieder dafür zu werben, dass mehr Transparenz und Verlässlichkeit im chinesischen Interesse sein müsste, wenn Peking die Beziehungen zu Europa wichtig sind. Tatsächlich schenkt China den Europäern seit Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump mehr Beachtung, in der Hoffnung, damit die globale Stabilität zu sichern. Für Europa liegt darin eine Chance, sich gegenüber China als starker Partner zu positionieren – vorausgesetzt den europäischen Staaten gelingt es endlich, sich auf eine gemeinsame Chinapolitik zu einigen und sich nicht auseinanderdividieren zu lassen.

Dafür ist es auch notwendig, die Entwicklungen in China noch sorgfältiger zu analysieren, möglichst ohne Generalverdächtigungen, aber auch ohne Naivität. Ein guter Anfang wäre, nicht nur zu benennen, was wir über China wissen, sondern auch, was wir alles nicht wissen und unsere blinden Flecken offensiv anzugehen.

2. China wird für Deutschland stärker zum wirtschaftlichen Konkurrenten – nicht nur mit fairen Methoden

Pekings Reformagenda hat zum Ziel, Chinas Wirtschaft innovativer, nachhaltiger und sozial gerechter zu machen. Mit diesen Ambitionen können Deutschland und Europa bestens leben. Problematisch sind allerdings einige der Mittel, mit denen China seine Ziele erreichen will: Ausländische Unternehmen im Land beklagen gezielte Diskriminierung, abnehmende Rechtssicherheit und Wettbewerbsverzerrungen durch direkte und indirekte Subventionen. Weite Teile der chinesischen Wirtschaft sind für internationale Firmen noch immer verschlossen, während die gleichen Branchen im Westen für chinesische Unternehmen offen sind. Das neue "Gesetz für Cybersicherheit" verlangt von ausländischen Firmen, alle geschäftsrelevanten Informationen in China zu speichern und damit de facto für chinesische Behörden offenzulegen.

Die Maßnahmen sollen Chinas Wirtschaft offensichtlich den nötigen Rückenwind geben, um die Abhängigkeit von fremder Technologie zu überwinden. Zu den Zukunftsbranchen, in denen sich das Land mit seiner Strategie "Made in China 2025" an die Spitze der Entwicklung setzen will, gehören auch viele, in denen Deutschland traditionell stark ist, etwa Maschinenbau und Umwelttechnologie. Zwar hat Xi in seiner Parteitagsrede erklärt, die Bedingungen für ausländische Unternehmen verbessern zu wollen. Doch diese Ankündigung gehört seit Jahren zum rhetorischen Standardrepertoire, das kaum noch Vertrauensvorschuss genießt.

Chinas Strategie ist nicht ohne Risiken, und in den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob sie aufgeht. Was dafür spricht: China bleibt auf absehbare Zeit der weltweit größte Wachstumsmarkt. Globale Konzerne wollen auf den chinesischen Markt nicht verzichten und müssen sich deshalb notgedrungen auch an dessen Bedingungen anpassen (zu diesen Bedingungen gehört auch die Gefahr, für offene Kritik – etwa am neuen Cybersicherheitsgesetzt – abgestraft zu werden). Westliche Regierungen haben kaum effektive Instrumente, um sich gegen chinesischen Protektionismus zu wehren.

Was dagegen spricht: Womöglich überschätzen Pekings Wirtschaftsplaner den Staat und unterschätzen den Markt. Eine innovative Wirtschaft braucht Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und den freien Fluss von Informationen und Ideen. Das ist auch in China offizielle Rhetorik, doch die Realität ist eine andere. Vielleicht unterschätzt Peking auch die Frustration und Sorgen internationaler Unternehmen, die inzwischen nach Strategien suchen, wie sie die Abhängigkeit vom chinesischen Markt verringern können.

Für Europa bedeutet das: Der Wettbewerb um neue Technologien, Geschäftsmodelle und Märkte wird schärfer werden. Das ist an sich eine positive Entwicklung, solange der Wettbewerb fair ist. Eine zentrale Herausforderung für Europa besteht darin, auf chinesische Wettbewerbsverzerrungen zu reagieren, ohne sich dabei selbst in eine protektionistische Spirale zu begeben. Das ist außerordentlich schwierig, weil die EU versuchen muss, mit formalen Regeln gegen oft sehr informale Diskriminierungen vorzugehen. Die derzeit von der EU-Kommission angestrebte Verschärfung der Investitionskontrollen ist dafür ein erstes Experiment, mehr aber noch nicht. Umso wichtiger ist daher die Aufgabe, den eigenen Standort mit zukunftsweisender Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialpolitik zu stärken. Denn die Weichen für die deutsche und europäische Wettbewerbsfähigkeit werden noch immer vor allem bei uns selbst gestellt.

3. China wird nur soweit zur Führungsmacht werden, wie andere Länder sich führen lassen

In seiner Parteitagsrede hat Xi Jinping stärker denn je Chinas Anspruch auf eine globale Führungsrolle formuliert. Sein "Chinesischer Traum" ist auch der Traum, die Dominanz des Westens zu brechen. In der gegenwärtigen Schwäche der USA und Europas sieht China eine Möglichkeit, selbst eine stärkere Position einzunehmen.

Allerdings will China seine Führungsrolle nur in Bereichen ausfüllen, die seinen direkten Interessen entsprechen – und die sind nicht immer deckungsgleich mit denen des Westens. Pekings unmittelbare Interessen liegen in seiner Nachbarschaft. Dort befindet sich China seit langem in einem diplomatischen und in Ansätzen in einem militärischen Wettbewerb mit den USA. Peking mobilisiert erhebliche Ressourcen, um die Länder in seiner Umgebung wirtschaftlich und politisch an sich zu binden.

Die "Neue Seidenstraße" – offizieller Titel neuerdings: "Belt and Road Initiative" – bietet dafür den Rahmen. Große Infrastrukturprojekte sollen die Basis für wirtschaftlichen Fortschritt und eine stärkere Vernetzung der Region schaffen. Peking verkauft das Konzept als eine Art Marshall-Plan für befreundete Schwellenländer, und wie das amerikanische Vorbild wären die Auswirkungen nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer Natur.

Chinas Führungsverständnis findet seinen Niederschlag auch in einer Reihe neuer Institutionen. Der "Belt and Road Summit", zu dem China erstmals im Frühjahr 2017 einlud, soll als regelmäßiges Treffen befreundeter Staatschefs etabliert werden. Eingeladen sind grundsätzlich alle Länder, die bereit sind, sich dem chinesischen Projekt zu verschreiben. Mit der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) experimentiert China an einer eigenen internationalen Entwicklungsbank; auch Deutschland beteiligt sich daran. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) ist die Beta-Version eines chinesisch geführten regionalen Zusammenschlusses für Wirtschaft und Sicherheit, unter anderem mit Russland, Indien und Pakistan. Auch den Brics-Verbund testet China als mögliches Bündnisformat.

Chinas Versuch, seine Führungsrolle nur dort auszuüben, wo es seinen eigenen Interessen entspricht, ist legitim. Ebenso legitim ist allerdings das Anliegen westlicher Länder, China überall dort in die Verantwortung zu nehmen, wo es aufgrund seiner politischen Macht und wirtschaftlichen Verflechtung Einfluss ausübt. Ein aus europäischer Sicht besonders brisantes Beispiel dafür ist Afrika. China ist in vielen afrikanischen Ländern wirtschaftlich weitaus stärker präsent als westliche Staaten. Damit wird China auch zu einem zentralen Akteur in Entwicklungen und Konflikten, die sich nicht zuletzt in Flüchtlingsströmen nach Europa auswirken können. Der Westen hat also allen Grund, von China gemeinsame Standards für Nachhaltigkeit oder Transparenz in der Entwicklungszusammenarbeit einzufordern. Globale Institutionen wie die Vereinten Nationen bieten dafür – trotz all ihrer Schwächen – noch immer den besten Rahmen.

Europa sollte deshalb versuchen, China nach Kräften in den bestehenden Strukturen der Global Governance einzubinden, von der Uno über die Bretton-Woods-Institutionen bis hin zur Welthandelsorganisation WTO. Gleichzeitig hat Europa eine Chance, die chinesischen Strukturen mit zu prägen, indem es sich in ihnen engagiert (wie etwa in der AIIB) oder Drittländer selbst stärker und besser einbindet. Denn gerade Chinas Nachbarn stehen dem Aufstieg der Volksrepublik skeptisch gegenüber und sind sich – vielerorts auch historisch – der Gefahr bewusst, die aus zu großer Abhängigkeit entstehen kann.

Das macht sie offen für andere Bündnisoptionen. Dabei geht es nicht darum, China zu isolieren oder zu "containen". Aber wenn Europa und der Westen bessere Kooperationsformate anbieten können, dürfte die Bereitschaft zur Zusammenarbeit groß sein. Von der Fähigkeit Europas und des Westens, solche anzubieten, wird abhängen, ob die chinesischen Strukturen und Institutionen lediglich parallel zur etablierten Ordnung bestehen, oder eine echte Alternative werden.

Zwar ist die westliche Demokratie für viele Teile der Welt immer weniger das Vorbild. Das hat nicht zuletzt mit der großen Arroganz und Vehemenz zu tun, mit der westliche Länder und Institutionen wie die Weltbank in asiatischen Ländern aufgetreten sind. Davon abgesehen gilt aber, dass auch in asiatischen Ländern die Bürger den Rechtsstaat, die Meinungsfreiheit, die Kontrolle über staatliche Instanzen und andere Errungenschaften der westlichen Demokratie durchaus höher schätzen als Behördenwillkür, Zensur und Kleptokratie. So ganz miserabel kann es also um den Vorbildcharakter des Westens nicht bestellt sein. So seltsam es auch klingt: Der Ruf Europas und des Westens ist besser als sein Ruf.