Kreuzung Shibuya in Tokyo

Sozialer Zusammenhalt in westlichen und asiatischen Gesellschaften im Vergleich

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein Thema von zunehmender Bedeutung in einer sich rasch globalisierenden Welt. Die Kohärenz des sozialen Gefüges ist in vielen Ländern zu einer wichtigen politischen Zielgröße avanciert, nicht nur in der westlichen Welt, sondern auch in Asien. Eine neue Studie, die auf den Ergebnissen des „Radars gesellschaftlicher Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung basiert, vergleicht erstmals den sozialen Zusammenhalt in westlichen und asiatischen Gesellschaften.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein relativ neues Konzept, das eine noch nicht hinreichend verstandene Qualität von Gesellschaften beschreibt, die diese robust, nachhaltig und lebenswert macht. In den letzten zwei Jahrzehnten hat es sowohl im akademischen als auch im politischen Diskurs zunehmende Beachtung gefunden. Die explizite oder implizite Annahme ist dabei oft, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt durch die Folgen von Modernisierung und Globalisierung geschwächt wird oder werden könnte. Daher wird sozialer Zusammenhalt von vielen Regierungen, supranationalen und internationalen Organisationen sowie von Nichtregierungsorganisationen, Think Tanks und anderen Akteuren der Zivilgesellschaft als wichtige politische Zielgröße angesehen.

Trotz dieses wachsenden Interesses wissen wir bislang nur wenig über die konkreten Bedingungen, die sozialen Zusammenhalt fördern oder schwächen, oder über seine unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen. Vor diesem Hintergrund hat die Bertelsmann Stiftung mit dem „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ ein multidimensionales Messinstrument entwickelt, das unterschiedliche Aspekte von Zusammenhalt integriert. In diesem Kontext wird gesellschaftlicher Zusammenhalt als die Qualität des gemeinschaftlichen Miteinanders in einem territorial abgegrenzten Gemeinwesen verstanden. Eine Gesellschaft mit einem starken Zusammenhalt zeichnet sich durch drei Elemente aus: belastbare soziale Beziehungen, eine positive emotionale Verbundenheit der Gesellschaftsmitglieder mit dem Gemeinwesen sowie eine ausgeprägte Ausrichtung auf das Gemeinwohl.

In einer neuen Studie hat ein Expertenteam unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Boehnke (Jacobs Universität Bremen) und Prof. Dr. Jan Delhey (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) den Zustand des sozialen Zusammenhalts, die ihn prägenden Faktoren und seine Auswirkungen in westlichen und asiatischen Gesellschaften in vergleichender Perspektive untersucht. Die Ergebnisse wurden unter dem Titel “Social Cohesion and Its Correlates: A Comparison of Western and Asian Societies” in der renommierten Zeitschrift Comparative Sociology veröffentlicht. Die empirische Analyse basiert auf früheren Untersuchungen des "Radars gesellschaftlicher Zusammenhalt". Die Autoren führen in dem Aufsatz die Ergebnisse von zwei separaten Untersuchungen zu 34 westlichen und 22 asiatischen Gesellschaften zusammen und analysieren die Auswirkungen von ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Einflussfaktoren auf gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie den Zusammenhang zwischen Zusammenhalt und der Lebenszufriedenheit der Bevölkerung. Das Hauptziel der Studie bestand darin, sowohl "universelle" Einflussfaktoren und Auswirkungen des sozialen Zusammenhalts zu identifizieren, die in beiden Weltregionen ähnlich funktionieren, als auch "partikularistische" Wechselwirkungen zu finden, die in westlichen und asiatischen Gesellschaften unterschiedlich sind.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Asien und im Westen

Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass einige Einflussfaktoren und Auswirkungen des sozialen Zusammenhalts tatsächlich universell funktionieren, andere dagegen nicht. Die auffälligste Ähnlichkeit zwischen dem Westen und Asien sind die positiven Auswirkung von wirtschaftlichem Wohlstand. In beiden Weltregionen fördern wirtschaftliche Ressourcen den sozialen Zusammenhalt. Die auffälligsten Besonderheiten der asiatischen Region beziehen sich auf Einkommensungleichheit und die politischen Rahmenbedingungen. Hinsichtlich der Disparitäten bei der Einkommensverteilung gilt im Westen eine einfache Formel: Je größer die Kluft zwischen Arm und Reich, desto geringer ist der Zusammenhalt in der Gesellschaft. Für Asien ist die Formel komplexer, da dort die Gesellschaften mit dem größten Zusammenhalt jene mit einer moderaten Einkommensungleichheit sind, nicht die mit der niedrigsten Ungleichheit. Eine mögliche Interpretation ist, dass in asiatischen Gesellschaften zwei miteinander konkurrierende Auswirkungen von Einkommensungleichheit gleichzeitig wirken: ein negativer und ein positiver Effekt, die sich zu einem mittleren Niveau der Ungleichheit ausbalancieren. Der Übergang von kleinen zu moderaten Einkommensungleichheiten fördert tendenziell den sozialen Zusammenhalt, während der Übergang von einer moderaten zu einer hohen Einkommensungleichheit ihn untergräbt. Einkommensdisparitäten scheinen den sozialen Zusammenhalt mithin zu fördern, solange sie nicht zu groß werden.

Die zweite große Besonderheit Asiens im Vergleich zum Westen besteht darin, dass autoritärere Regime einen stärkeren und nicht etwa einen schwächeren Zusammenhalt aufweisen. Für den Westen gilt das Gegenteil: Die liberale Demokratie stärkt den sozialen Zusammenhalt. Die Gesellschaften mit dem stärksten Zusammenhalt sind hier jene mit dem liberalsten demokratischen Aufbau – d. h. diejenigen, die Rechte von Minderheiten auf ein Schutzniveau heben, das dem der Mehrheitsgesellschaft entspricht. Im Gegensatz zu diesem westlichen Modell weisen die autoritär verfassten Gesellschaften in Asien ein höheres Maß an Zusammenhalt auf als die demokratischen auf einem ähnlichen Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Autoren erklären diesen Befund mit soziologischen und interkulturellen psychologischen Theorien über Modernisierung in Asien und asiatische Werte.

Die praktische Schlussfolgerung der Untersuchung lautet, dass nicht alle politischen Empfehlungen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts sich einfach von einer Weltregion auf die andere übertragen lassen. Letztlich kommen die Autoren zu dem Schluss, dass es nur wenige universell gültige Lösungen für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts gibt: “A firm conclusion of our research is that policy makers interested in strengthening social cohesion should be careful in copying recipes that worked well in other parts of the world. One key exception is economic prosperity; obviously, economic means are useful for achieving social ends, too.” 

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