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Vom Umgang mit Minderheiten in Indien

Indien ist eines der ethnisch und kulturell vielfältigsten Länder der Welt. Seine Erfahrungen im Umgang mit verschiedenen Minderheiten bieten wichtige Erkenntnisse auch für andere Länder, wie eine neue Studie darlegt.

Inhalt

Für pluralistische Demokratien ist der Umgang mit religiösen, kulturellen und anderen Formen gesellschaftlicher Vielfalt ein zentrales Anliegen. Nahezu alle Gesellschaften in der heutigen Welt werden hinsichtlich der kulturellen und ethnischen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung immer vielfältiger. Das stellt Regierungen immer wieder neu und zunehmend drängender vor die Herausforderung, den Umgang ihrer Gesellschaften mit Vielfalt zu gestalten.

Bisher konzentrierte sich die Debatte über Diversität und Multikulturalismus zum Großteil auf die Erfahrungen in Nordamerika und Europa. Die reichhaltigen Erfahrungen von Gesellschaften in anderen Regionen der Welt wurden dabei zumeist vernachlässigt. Dies gilt besonders für Indien. Das 1,3-Milliarden-Menschen-Land verfügt jedoch in ganz besonderem Maße über lehrreiche Erfahrungen, mit Forderungen seiner verschiedenen Minderheitengruppen umzugehen. Zugleich verschärfen sich dort durch den Aufstieg eines radikalen Hindunationalismus aber auch die Konflikte zwischen religiösen Gruppen, insbesondere zwischen Hindus und Muslimen. 

Dass diese Erfahrungen auch für westliche Länder relevant sind, zeigt eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung. Sie identifiziert zentrale Fragen, die sich aus den indischen Erfahrungen ergeben und verknüpft diese mit der internationalen Debatte über Vielfalt und Minderheitenansprüche in einer Demokratie. Die Studie wurde von Peter Ronald deSouza, Hilal Ahmed und Mohd. Sanjeer Alam verfasst, drei Wissenschaftlern, die am Centre for the Study of Developing Societies (CSDS) in Neu Delhi arbeiten. Das Buch ist kürzlich im renommierten Verlag Bloomsbury India unter dem Titel "Democratic Accommodations: Minorities in Contemporary India" erschienen.

 Die Untersuchung ist ein Folgeprojekt zum <link de unsere-projekte vielfalt-leben>Reinhard-Mohn-Preis 2018 der Bertelsmann Stiftung, der unter dem Titel „Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten"“ nach Impulsen suchte, wie moderne Gesellschaften unter Bedingungen zunehmender Vielfalt in Frieden und Freiheit leben können.

 Eine Politik des Entgegenkommens

Das Buch untersucht den Umgang mit kulturellen und religiösen Minderheiten in Indien seit der Unabhängigkeit und geht der Frage nach, was pluralistische Demokratien in Europa und anderswo aus den indischen Erfahrungen lernen können. Die Autoren zeigen, dass die dominierende Reaktion des indischen Staates auf Forderungen von Minderheiten eine Politik des Entgegenkommens (Accommodation) war. Diese oszillierte zwischen einem starken und aktiven Entgegenkommen und einem eher schwachen und passiven. Diese politische Reaktion hat nach Erkenntnis der Wissenschaftler wesentlich dazu beigetragen hat, das riesige und unglaublich vielfältige Land zusammenzuhalten, weshalb sie die Ausweitung hindunationalistischer Aktivitäten unter der Regierung Modi mit großer Sorge betrachten.

Ihre zentrale These lautet daher, dass eine moderne pluralistische Demokratie den Forderungen und Ansprüchen von Minderheiten so weit wie möglich entgegenkommen sollte. Dies sei nicht nur ein Gebot politischer Klugheit, sondern auch aus moralischen Überlegungen geboten.  Wie eine solche Politik des Entgegenkommens konkret aussehen kann, hängt von den spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen ab. Sie ist zwangläufig konfliktträchtig und bleibt stets eine Gratwanderung zwischen Entgegenkommen, Integration und Assimilation, mit dem Ziel, einen Kompromiss zwischen den Ansprüchen der Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft zu finden.

Die Autoren argumentieren, dass alle pluralistischen Demokratien eigene Strategien für den Umgang mit Minderheiten entwickeln müssen, die der Dynamik ihrer jeweiligen Gesellschaft entsprechen. Zugleich präsentieren sie aber auch wichtige Erkenntnisse aus der indischen Erfahrung, die für diesen Prozess nützlich sein können. Sechs Einsichten sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung 

  1. Anerkennung kultureller Vielfalt. Alle Demokratien müssen Vielfalt als soziale und politische Realität anerkennen und akzeptieren, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft Minderheiten mit Ansprüchen auf Anerkennung, Rechte und Ressourcen gibt, mit denen sich die Mehrheit auseinandersetzen muss, selbst wenn diese Forderungen nur schwer zu erfüllen sind.
  2. Notwendigkeit von Kompromisslösungen. Jede Demokratie muss eine für sie angemessene Antwort auf die Ansprüche ihrer Minderheiten suchen. Hierbei sind Kompromisse zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten notwendig und unausweichlich.
  3. Bedeutung spezifischer Institutionen. Für den Umgang mit Minderheiten ist es wichtig, spezifische Institutionen zu haben, die sich ihrer Forderungen annehmen bzw. sich mit diesen auseinandersetzen. Solche Institutionen sollten eine größtmögliche Autonomie besitzen, die sie vor politischer Einflussnahme schützt.
  4. Bedeutung der Rechtsprechung. Für die Lösung von Konflikten im Umgang mit Minderheiten sind Gerichte von großer Bedeutung, weil sie häufig als "institutions of last resort" Lösungen bzw. Kompromisse finden müssen, die politisch nicht ausgehandelt werden konnten.
  5. Sichtbarkeit von Minderheiten. Die Anerkennung von Minderheiten manifestiert sich auch in ihrer Präsenz in der Öffentlichkeit, in den Medien, in Unternehmen und in Organisationen der Zivilgesellschaft. Aus diesem Grund sollte die Repräsentation von Minderheiten in öffentlichen und privaten Institutionen und Organisationen gefördert werden.
  6. Gezielte Fördermaßnahmen. Für die Inklusion von Minderheiten sind häufig gezielte Maßnahmen und Programme erforderlich, die benachteilige gesellschaftliche Gruppen materiell und ideell unterstützen.

Auch wenn diese Erkenntnisse kein Patentrezept für den Umgang mit Vielfalt in einer pluralistischen Demokratie darstellen, kann die in diesem Buch vorgestellte differenzierte Untersuchung der diesbezüglichen Erfahrungen in Indien die internationale Debatte über Vielfalt und Multikulturalismus voranbringen und politischen Entscheidungsträgern dabei helfen, ihre eigenen Strategien für den Umgang mit Minderheiten zu entwickeln.


Peter Ronald deSouza, Hilal Ahmed, Mohd. Sanjeer Alam:
Democratic Accommodations. Minorities in Contemporary India
London, New Delhi, New York, Sydney: Bloomsbury, 2019
ISBN: 9789388414562 

www.bloomsbury.com/uk/democratic-accommodations-9789388414562