Partizipative Haushaltsplanung hat eine lange, weltweite Tradition. Verwaltung und Politik treffen regelmäßig finanzpolitische Entscheidungen, entscheiden über den Haushalt für die nächsten Jahre. Beim Bürgerhaushalt plant die Bevölkerung mit, er wird von Expert:innen als eine der erfolgreichsten demokratischen Innovationen der letzten Jahrzehnte bezeichnet – mit vielen Aktiven weltweit.
Die internationalen Erfahrungen zeigen: Bürger:innen sind bereit und willens, sich mit harten und manchmal auch komplizierten Finanzfragen auseinanderzusetzen und inhaltlich wertvolle Vorschläge zu machen. Verbindlichkeit, Verständlichkeit und Vertrauen sind die Schlüssel für erfolgreiche Bürgerhaushalte – auf allen staatlichen Ebenen.
Laden Sie hier den SHORTCUT als PDF herunter.
Gelder mit Betroffenen planen – Bürger:innen entscheiden bei Finanzfragen mit
Wofür soll der Staat Geld ausgeben? Beim Bürgerhaushalt entscheidet die Bevölkerung bei dieser wichtigen politischen Frage mit. Tausende Beispiele weltweit zeigen: Der Bürgerhaushalt ist eine der erfolgreichsten demokratischen Innovationen der letzten Jahrzehnte. Die Gründe für Bürgerhaushalte variieren international: Vertrauensaufbau in Portugal, Korruptionsvorbeugung im Ursprungsland Brasilien oder Verminderung der Armut in Mosambik.
Die Abläufe folgen demselben Muster. Die Verwaltung legt einen verständlichen und transparenten Plan vor, den die Bürger:innen um Vorschläge ergänzen. Die Verwaltung prüft die Zulässigkeit, Bevölkerung und Politik bewerten oder entscheiden über die Vorschläge. Bürgerhaushalte können helfen, Transparenz und Vertrauen zu schaffen, führen zu einer bürgernahen Finanzplanung durch Verwaltung und Politik und fördern die Identifikation mit der eigenen Stadt, der Region oder dem Land.
International liegt die endgültige Entscheidung über Bürgerhaushalte oft direkt bei den Bürger:innen. In Deutschland und Europa liegt sie eher bei Politik und Verwaltung. Aber auch hier existiert mit dem Bürgerbudget eine Form des Bürgerhaushaltes, bei der die Bürger:innen oft das letzte Wort haben.
Der Einbezug der Bevölkerung beim öffentlichen Geld hat eine lange Geschichte.
1869 Kanton Zürich führt das direkt-demokratische Finanzreferendum ein, Beteiligungsquote bei den Abstimmungen bis heute 22 bis 83 %.
1898 Einige US-Bundesstaaten führen das Finanzreferendum ein.
1919 Laut Weimarer Reichsverfassung dürfen Volksinitiativen nicht den Haushaltsplan betreffen.
1952 In Nordrhein-Westfalen müssen Kommunen Haushaltspläne öffentlich auslegen und Einwände berücksichtigen – wie bei räumlichen Planungen.
1989 Neuseeland und Brasilien „erfinden“ den Bürgerhaushalt mit dem Ziel der Verwaltungsmodernisierung bzw. der Korruptionsbekämpfung. Die demokratische Innovation breitet sich von Süden nach Norden weltweit tausendfach aus.
1998 Erste deutsche Bürgerhaushalte in Blumberg und Mönchweiler.
2002 Mit dem ersten Quartiersfonds in einem Stadtteil führt Berlin faktisch ein Bürgerbudget ein.
2011 Stuttgart startet einen regelmäßigen Bürgerhaushalt. Im Jahr 2017: 9 % = 52.000 aktive Teilnehmer:innen, 3.457 Vorschläge.
2014 Paris startet Bürgerbudget mit Investitionen über 100.000.000 € = 33 € je Einwohner:in, 8 % = 132.000 Aktive.
2017 Ketzin (Havel) führt Bürgerbudget über 50.000 € = 8 € je Einwohner:in ein, 24 % = 1.594 Aktive.
2017 Portugal führt das erste nationale Bürgerbudget über 3.000.000 € =
0,3 €/Einwohner:in ein, 1 % = 80.000 Aktive, 599 Projekte.
2021 Für die Ausstellung documenta 15 erhalten Kleingruppen der beteiligten Künstler:innen ein Budget, über dessen Verwendung für die Gestaltung der Ausstellung gemeinsam entschieden wird.
Bürger:innen bei der Haushaltsplanung einzubeziehen gelingt auf viele Arten.
Vielfältige Bereiche:
Bürgerhaushalte gibt es für Sanierungsgebiete, Ortsteile, Städte, Landkreise, Regionen oder ganze Staaten. Einige Bürgerhaushalte beschränken sich auf Einzelthemen wie Verkehr, andere nutzen das Instrument zum Schuldenabbau. In Schülerhaushalten entscheiden Schüler:innen über Gelder in ihrer Schule.
- Wer darf vorschlagen?
Manchmal dürfen alle anonym vorschlagen, manchmal nur Einwohner:innen der Stadt ab einem bestimmten Alter oder nur Wahlberechtigte.
- Was darf vorgeschlagen werden?
Beim Bürgerbudget sind Ausgaben oder Investitionen meist durch einen Höchstbetrag gedeckelt. Beim Bürgerhaushalt kommen neben generellen Ideen für die Ausgaben auch Ideen zum Sparen und für Einnahmen hinzu.
- Wer prüft die Zulässigkeit der Vorschläge?
Die Prüfung übernimmt in der Regel die Verwaltung, ein Beirat aus Verwaltung und gewählten Einwohner:innen oder eine per Zufall besetzte Bürgerjury.
- Wie werden die Vorschläge bewertet?
Es existieren unterschiedliche Varianten. Häufig haben die Abstimmungsberechtigten bis zu fünf Stimmen, die sie auf die Vorschläge verteilen oder jede Person kann jeden Vorschlag mit einer zwei- bis zehnstufigen Skala bewerten – wie bei Umfragen. Das Ergebnis ist immer eine Rangliste der Vorschläge.
- Wie werden die Vorschläge ausgewählt?
Entweder entscheidet die Politik, welche der am besten bewerteten Vorschläge umgesetzt werden oder es werden so viele Top-Vorschläge der Rangliste umgesetzt, wie Geld bereitsteht. In Porto Alegre oder Sevilla werden sozial-politische Schwerpunkte gesetzt, nach denen Vorschläge vorzugsweise ausgewählt werden.
Bürgerhaushalte sind eine Chance für die Demokratie
Partizipative Haushaltsplanung hat eine lange, weltweite Tradition. Ausgangspunkte der Bürgerhaushalte waren 1989 unabhängig voneinander Porto Alegre, Brasilien und Christchurch, Neuseeland. Brasilien suchte demokratische Alternativen nach der Militärdiktatur, Neuseeland demokratisierte die öffentliche Verwaltung. Beide sorgten dafür, dass Verwaltung und Politik echte, verständliche Transparenz und Lesbarkeit von Finanzinformationen schaffen mussten.
Bürger:innen sind bereit und willens, sich mit harten und manchmal auch komplizierten Finanzfragen auseinanderzusetzen und inhaltlich wertvolle Vorschläge zu machen. So gaben etwa 2017 in Stuttgart 97 Prozent der befragten Beteiligten ihre Bereitschaft an, auch am nächsten Bürgerhaushalt teilzunehmen. In Zürich geben seit 1869 bei Abstimmungen bis zu 83 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme bei konkreten Finanzfragen ab. An Bürgerhaushalten in Schulen (Schülerhaushalten) nehmen regelmäßig bis zu 90 Prozent der Schüler:innen teil.
Die positiven Effekte sind vielfältig: Aufbau von Vertrauen und Transparenz, Korruptionsbekämpfung, zielgerichtetere Mittelverwendung, Stärkung bestimmter Regionen oder Bevölkerungsgruppen. Die Erfahrung zeigt dabei, dass partizipative Haushaltsplanung besonders erfolgreich ist, wenn es einen überschaubaren räumlichen oder thematischen Bereich betrifft, in dem die Betroffenen leicht erreicht werden, die Umsetzung der Ergebnisse möglichst verbindlich ist und die Themen für viele relevant sind.
Das klare Herunterbrechen auf einzelne Projekte oder Themen und die Verbindlichkeit der Bürgerentscheidungen sind elementar für den Erfolg. Die Beteiligung von möglichst vielen Menschen an Finanzthemen kann so gelingen. So können Bürgerhaushalte helfen, mehr Nähe zwischen Politik und den Bürger:innen herzustellen. Dies gilt auch für die EU.
Bürgerhaushalt Stuttgart
- Alle zwei Jahre können Stuttgarter:innen ab Januar Vorschläge zum Haushalt der Stadt und den 23 Stadtbezirken einbringen – online, auf Papier, per Telefon.
- Moderation und Verwaltung prüfen die Vorschläge auf Doppelungen und Zuständigkeit der Stadt.
- Im März können die Stuttgarter:innen die Bürgervorschläge bewerten – online, auf Papier.
- Die Verwaltung prüft die Top 120 Vorschläge fachlich, der Stadtrat entscheidet, was umgesetzt wird.
- In 2017 wurden 3.457 Vorschläge eingereicht, 2.664 Ideen konnte die Bevölkerung bewerten. 52.000 Personen gaben rund 3.000.000 Bewertungen und 12.000 Kommentare ab. Von den Top 120 Vorschlägen wurde etwa die Hälfte vom Stadtrat aufgegriffen. Vom Rat beschlossen wurden beispielsweise: Kunstrasen für einen Sportplatz, ein Pavillon für mobile Jugendarbeit sowie eine Machbarkeitsstudie für eine Surfwelle im Neckar.
Bürgerhaushalt Madrid
- Jedes Jahr können Einwohner:innen von Januar bis März Vorschläge zu Ausgaben für Madrid oder die 21 Bezirke einreichen und um Unterstützung durch die Bevölkerung werben.
- Zwischen April und Anfang Mai überprüft die Stadtverwaltung die Umsetzbarkeit der Projekte in der Rangfolge der Unterstützung durch die Bevölkerung.
- Vom 15. Mai bis 30. Juni stimmt die Bevölkerung Madrids über die qualifizierten Projekte ab, die sie am meisten interessieren.
- Ab Genehmigung der Budgets im Folgejahr beginnt der Stadtrat mit der Umsetzung der Siegerprojekte.
- 2017 wurden 3.215 Projekte eingereicht, 720 Vorschläge wurden von 39.000 Personen bewertet. 311 Projekte für 100 Millionen Euro sollten umgesetzt werden. Beschlossen wurde zum Beispiel: Sammelbehälter für gebrauchtes Pflanzenöl bereitstellen, Mehrwegbecher für Volksfeste anschaffen, Toiletten im Retiro-Park sanieren.
Message to go:
Autoren
Dr. Christian Huesmann
christian.huesmann@bertelsmann-stiftung.de
Tel.: +49 (5241) 81-81221
Volker Vorwerk
www.buergerwissen.de
Tel.: +49 (521) 5222908
Demokratie und Partizipation in Europa (bertelsmann-stiftung.de)
Weiterführende Literatur
Übergreifende Internetseiten
Participatory Budgeting World Atlas
Netzwerk Bürgerhaushalt Deutschland
Schülerhaushalte in Deutschland und Österreich
Links zu einzelnen Bürgerhaushalten
Stuttgart: www.buergerhaushalt-stuttgart.de
Madrid: www.decide.madrid.es
Paris: budgetparticipatif.paris.fr
Lissabon: op.lisboaparticipa.pt
New York: council.nyc.gov/pb
Seoul: yesan.seoul.go.kr/intro/index.do
Texte
Vorwerk, Volker, und Maria Gonçalves (2020). „Partizipative Budgetplanung: Bürgerhaushalt, Bürgerbudget oder Finanzreferendum?“. Kursbuch Bürgerbeteiligung. Hrsg. Jörg Sommer. Deutsche Umweltstiftung.
Wampler, Brian, McNulty, Stephanie and Michael Touchton (2021). Participatory Budgeting in Global Perspective. Oxford University Press.
Impressum
Zukunft der Demokratie
© Dezember 2021 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Anna Renkamp, Dr. Robert Vehrkamp
Titelbild: © flydragon - stock.adobe.com
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Programm Zukunft der Demokratie der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht es in unregelmäßigen Abständen.
Download
Download
Gefördert (teilweise) durch einen Zuschuss der Stiftung Open Society Institute in Zusammenarbeit mit der OSIFE der Open Society Foundations. Unterstützt (teilweise) durch einen Zuschuss der King Baudouin Foundation.