Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat Neues gewagt. 150 zufällig ausgewählte Bürger:innen kamen über mehrere Monate in einem Klima-Bürgerrat zusammen. Sie entwickelten 149 Vorschläge, wie Frankreich seine Treibhausgasemissionen reduzieren und zugleich soziale Gerechtigkeit garantieren kann. Inzwischen ist vieles davon Gesetz.
Zugleich gibt es auch Kritik: Manche Teilnehmer:innen hatten mehr erwartet, die Erwartungen der Öffentlichkeit waren teilweise zu hoch. Dennoch: Frankreich ist zum Vorreiter von innovativer und wirkungsvoller Bürgerbeteiligung geworden.
Der Klima-Bürgerrat – vom Protest zum Dialog und noch weiter
Die Gelbwesten-Bewegung (Gilets jaunes) sorgte Ende 2018 in Frankreich für Furore. Hunderttausende Menschen gingen wochenlang auf die Straßen. Sie demonstrierten gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Nationalstraßen, die Kürzung von Sozialleistungen, den starken Anstieg des Dieselpreises und eine geplante Ökosteuer.
Anfang 2019 reagierte Staatspräsident Macron darauf mit einer nationalen Debatte (Le Grand Débat). Die französische Bevölkerung brachte ihre Bedenken und Vorschläge zu den Themen Umwelt, Steuern, Staatsaufbau und Demokratie in unterschiedlichsten Formaten ein. Ein Vorschlag war die Einrichtung einer per Los zusammengesetzten Bürgerversammlung.
Aus diesem Vorschlag ging im April 2019 der Klima-Bürgerrat hervor. Anschließend wurde der französische Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat (Conseil économique, social et environmental) beauftragt, diesen Rat einzurichten. Die Regierung versprach zu den Vorschlägen des Rates Stellung zu nehmen und einen Zeitplan für ihre Umsetzung zu nennen.
Damit wagte die französische Regierung ein politisches Experiment bei der Suche nach Lösungen zum Klimaschutz und erprobte eine neue Form der Bürgerbeteiligung.
5.389.126 Euro Gesamtbudget: Teilnehmer:innen erhielten eine Aufwandsentschädigung.
5 Themen: sich Bewegen, Verbrauchen, Wohnen, Produzieren und Arbeiten, sich Ernähren.
Zwischen 16 und 80 Jahren: hohe Diversität unter den Teilnehmer:innen.
1 Abschlusserklärung, angenommen von 95 Prozent der 150 Bürger:innen.
149 vorgeschlagene Maßnahmen
Mehr als 400 Seiten an Berichten und Finanzierungsvorschlägen wurden der französischen Regierung überreicht.
Wie lief es ab?
150 Bürger:innen wurden per Los bestimmt. Zu diesem Zweck hatte der französische Rat für Wirtschaft, Soziales und Umwelt rund 70.000 Bürger:innen telefonisch kontaktiert, um ein repräsentatives Panel zu bilden. Die Teilnehmerschaft bildete einen Querschnitt der französischen Gesellschaft:
- 52% Frauen,
- sechs Altersgruppen aus verschiedenen sozio-ökonomischen Kategorien,
- Repräsentation der Städte, Vororte und des ländlichen Raums.
>> Neun Monate, von Oktober 2019 bis Juni 2020, trafen sich die Bürger:innen an sieben Wochenenden face-to-face plus einmal online, um sich zu informieren, mit Expert:innen auszutauschen und gemeinsam ihre Vorschläge zu formulieren.
>> Während der Sitzungen konnten die Bürger:innen auf eigenen Wunsch Expert:innen aus verschiedenen Themenfeldern und Lebensbereichen treffen.
>> In den letzten beiden Sitzungen wurden die vorgeschlagenen Maßnahmen zusammengefasst und es wurde im Plenum darüber abgestimmt.
>> Während der neun Monate wurde kontinuierlich gearbeitet: Über eine Online-Plattform war ein permanenter Austausch möglich, um die Vorschläge zu ändern und anzupassen.
>> Die Videokonferenz-Sitzungen der Arbeitsgruppen stehen der Öffentlichkeit auf der Online-Plattform zur Verfügung.
Erarbeitete Maßnahmen
Nicht alle Vorschläge sind komplettes Neuland. Aber alle verfolgen das ambitionierte Ziel, ökologische, soziale und ökonomische Perspektiven miteinander zu vereinen und somit zu einer sozial gerechten, ökologischen Transformation zu gelangen. Zum Beispiel:
- Eine Absenkung der geltenden Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130km/h auf 110km/h.
- Eine verpflichtende energetische Gesamtsanierung von Gebäuden.
- Integration des Kampfes gegen den Klimawandel in die französische Verfassung.
- Durchführung eines Referendums über die Einführung des Tatbestandes Umweltverbrechen (crime d’écocide).
Der Klima-Bürgerrat: Ein Garant für eine vielfältige Demokratie?
Der Klima-Bürgerrat war eine demokratische und politische Innovation, aber kein Selbstläufer.
Einige Lehren:
Weniger ist mehr: Der Auftrag der Konvention lässt sich in einem Satz zusammenfassen: „Wie können wir die Treibhausgasemissionen bis 2030 unter Wahrung der sozialen Gerechtigkeit um mindestens 40 % gegenüber dem Niveau von 1990 reduzieren?“ Neun Monate später warten die Teilnehmer:innen mit 149 Vorschlägen und Maßnahmen auf. Der Bürgerrat zeigt: Bürger:innen können zu einem aktuellen und dringenden Thema konkrete Ergebnisse liefern.
Erwartungsmanagement von Anfang an: Präsident Emmanuel Macron hatte sich zuvor verpflichtet, die Vorschläge der Konvention „ohne Filter“ entweder in einem Referendum abstimmen zu lassen oder sie in einer Abstimmung im Parlament oder einer direkten regulatorischen Umsetzung zu behandeln. Er weckte damit große Erwartungen in der Bevölkerung. Jetzt zeigt sich, dass viele Vorschläge doch nicht in ihrer Gänze oder nicht ganz so schnell umgesetzt werden können. Einige Teilnehmer:innen äußern darüber öffentlich ihren Unmut.
Breite Öffentlichkeit: Um Akzeptanz in der Bevölkerung zu erreichen, muss die Arbeit der Konvention nicht nur kontinuierlich erklärt und kommuniziert, sondern auch einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Die Bekanntmachung der Ergebnisse und eine Kommunikation über einzelne Prozessschritte ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg solcher Verfahren.
Partizipative Demokratie zu Klimafragen – kein Einzelfall in Europa
Bürgerräte zu Klimafragen sind en vogue. Irland hat sich mit Klimafragen beschäftigt. Bereits 2017 fand dort ein Bürgerrat zum Klimawandel statt, der weitreichende Maßnahmen zum Klimaschutz empfahl. In Großbritannien sowie in vielen Städten Europas gab es 2019 und 2020 Klima-Bürgerräte.
Aktuelle Entwicklung
Staatspräsident Emmanuel Macron hat ein Verfassungsreferendum versprochen. Der Bürgerrat als Format könnte zu einem dauerhaften Element der französischen Demokratie werden. Derzeit sind weitere Bürgerräte geplant (wie z. B. zu Impffragen in der Corona-Krise). Zudem möchte Macron, dass der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat zur „Kammer der Bürgerräte“ wird.
Aber: Der Bürgerrat hat bei vielen Teilnehmer:innen und in der Öffentlichkeit auch für Enttäuschung gesorgt. Kernproblem waren und sind unterschiedliche Erwartungen beim Umgang mit den Ergebnissen.
Message to go:
Autoren
Dr. Dominik Hierlemann
dominik.hierlemann@bertelsmann-stiftung.de
Tel. +49(5241)81-81 537
Céline Diebold, Bonn
celi.diebold@gmail.com
Demokratie und Partizipation in Europa (bertelsmann-stiftung.de)
Weiterführende Literatur
Convention citoyenne pour le climat
www.conventioncitoyennepourleclimat.fr/
www.missionspubliques.org/pf/citizens-assembly-on-climate/?lang=en
Übersicht über die Umsetzung der Vorschläge:
Que sont devenues les propositions de la convention pour le climat, qu’Emmanuel Macron s’était engagé à reprendre « sans filtre » ? (lemonde.fr)
Impressum
Zukunft der Demokratie
© Februar 2021 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Anna Renkamp, Dr. Robert Vehrkamp
Titelbild: © Nicola - stock.adobe.com
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung
demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Programm Zukunft der Demokratie der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht es in unregelmäßigen Abständen.
Download
Download
Gefördert (teilweise) durch einen Zuschuss der Stiftung Open Society Institute in Zusammenarbeit mit der OSIFE der Open Society Foundations. Unterstützt (teilweise) durch einen Zuschuss der King Baudouin Foundation.