Irland hat ein Beispiel für demokratische Innovation gesetzt. Die irische Bürgerversammlung zeigt, dass die Demokratie wiederbelebt werden kann, wenn die Bürger ein größeres Mitspracherecht haben. Insbesondere die innovative Kombination aus repräsentativer, deliberativer und direkter Demokratie machte diesen neuen Ansatz zu einem dauerhaften Erfolg.
Bürgerversammlung in Irland 2016 – 2018: Vorreiter für deliberative Demokratie
Die irische Bürgerversammlung (Citizens‘ Assembly) hat gezeigt, wie die repräsentative Demokratie belebt und erneuert werden kann. Bürger:innen erhalten neue und direkte Mitsprache bei kontrovers diskutierten, gesamtgesellschaftlichen Fragen. Ausgelöst durch die Citizens‘ Assembly im Mai 2018 änderte Irland seine Verfassung und sein Abtreibungsrecht.
Dieser Prozess wurde von der Bürgerversammlung in Irland eingeleitet. 99 zufällig ausgewählte Bürger:innen kamen an insgesamt 12 Wochenenden über einen Zeitraum von 19 Monaten zusammen. Sie hörten sich Stellungnahmen von Expert:innen an, debattierten, tauschten sich über Vorstellungen miteinander aus und erarbeiteten mehrere gemeinsame Vorschläge. Die Reform des Abtreibungsrechts war einer davon.
Irland zeigt: Verschiedene Formen der Demokratie können sich einander ergänzen – Demokratie ist vielfältig. Die Regierung initiierte die Bürgerversammlung, im Parlament wurden die Ergebnisse
debattiert und ein Referendum band alle Bürger:innen des Landes ein. Gerade diese Kombination aus repräsentativer, deliberativer und direkter Demokratie stärkt die Legitimität von Politik und ihren
Entscheidungen.
Die Bürgerversammlung erörterte die Themen Abtreibung, alternde Bevölkerung, Klimawandel, Referenden, befristete Parlamente.
Die Teilnehmenden entwickelten Empfehlungen zu allen Themen.
Die Versammlung trat an insgesamt 20 Tagen zusammen.
Hohe öffentliche Aufmerksamkeit mit über 13.500 weiteren öffentlichen Eingaben.
Kosten: 1,5 Mio. Euro. Keine Aufwandsentschädigung für die Teilnehmenden.
Regierung und Parlament handelten schnell in der Frage von Abtreibung und Klimawandel, zeigten aber keine Reaktion auf die anderen drei Themen.
Über 66 % der irischen Bevölkerung sprachen sich für die Änderung des Abtreibungsrechts aus; verfassungsrechtlich folgte man den Empfehlungen der Bürgerversammlung.
Hoher Zufriedenheitsgrad der Teilnehmenden bei gleichzeitig hoher Fluktuation, insbesondere aufgrund der fehlenden Aufwandsentschädigung.
Sitzungen der Bürgerversammlung konnten per Livestream im Internet verfolgt werden.
Grundwerte bei allen Sitzungen: Offenheit, Fairness, Gleichheit, Effizienz, Respekt und Kollegialität.
Diversität und Deliberation – Funktionsweise der ersten Bürgerversammlung
Die Mitglieder:innen der Bürgerversammlung wurden zufällig ausgewählt. Sie spiegelten die Gesellschaft wider mit Blick auf Alter, Geschlecht, Schicht und regionaler Verteilung. Ihre Namen wurden auf der Website der Bürgerversammlung veröffentlicht. Die Bürgerversammlung verfolgte die Grundsätze und Methoden der deliberativen Demokratie. Die Mitglieder:innen trafen sich in einem Dubliner Hotel und bildeten Gesprächsrunden mit sieben, acht Personen. Hinzu kamen ausgebildete Moderator:innen und Schriftführer:innen. Die Moderator:innen gewährleisteten, dass die Debatten
fokussiert und respektvoll stattfanden und jedes Mitglied sich gleichermaßen äußern konnte.
Die Gesprächsrunden wurden jedes Wochenende neu gemischt. Eine von einer beratenden Expertengruppe unterstützte Lenkungsgruppe bestehend aus ausgewählten Mitglieder:innen entschied über den Ablaufplan der Sitzungen (siehe Farrell et al.). Diese enthielten üblicherweise folgende Elemente:
>> 15- bis 30-minütige Präsentationen von Rechts-, Ethik- und Medizinexperten. Briefing-Unterlagen wurden am Vortag ausgehändigt.
>> Kurzpräsentationen von Interessengruppen und in einigen Fällen (bei der Abtreibungsdebatte) persönliche Erfahrungsberichte mehrerer Frauen.
>> Zeit für Fragen und Antworten.
>> Kleine Gesprächsrunden erleichterten das Debattieren in geschlossenen Sitzungen.
>> Pausen zum Nachdenken.
Themen in der Bürgerversammlung in Irland 2016 – 2018
Das Thema Abtreibung wurde an fünf Wochenenden diskutiert. Die Mitglieder:innen hörten Beiträge von 40 Medizin-, Ethik- und Rechtsexpert:innen, Berichte von Frauen, die von der bestehenden Abtreibungsregelung betroffen waren sowie 17 Interessengruppen. Die Vorsitzende der Bürger-versammlung Justice Laffoy erklärte, dass zum Ende alle Mitglieder:innen „fast einzigartig“ Erkenntnisse zum Thema Abtreibung gewonnen hatten. Sie lehnten mit einer großen Mehrheit von 87,3 % die bestehende Regelung ab. 64 % stimmten sogar für eine Abtreibung „ohne Einschränkung hinsichtlich der Gründe“ während der ersten zwölf Wochen (Irish Times vom 27.05.2018).
Ein großer Schritt für die Demokratie – zwei für Irland
Innerhalb kürzester Zeit hat Irland zwei soziopolitische Quantensprünge vollbracht. 2015 ermöglichte das Land durch einen mit Bürger:innen mitbesetzten Verfassungskonvent die Ehe für alle. Im Mai 2018 wurde dann durch die Bürgerversammlung und das anschließende Referendum das Abtreibungsrecht reformiert. Jahrzehntelang hatte sich die irische Politik vor Reformen gedrückt.
Forderungen nach einer Lockerung der Abtreibungsgesetze galten für konservativ eingestellte Politiker:innen als Karrierekiller. Der Mut irischer Politiker: innen, die Bürgerversammlung ins Leben zu rufen, hat sich ausgezahlt. Viele Beobachter:innen vermuteten zunächst, sie könne ein taktisches Manöver sein, um Abtreibungsfragen erneut auf das Abstellgleis zu stellen. Das Gegenteil trat jedoch ein. Lange hatte die aggressive, von Lobbygruppen geschürte Stimmung, der Debatte geschadet. Auch die intensiven Beratungen unter den Teilnehmenden der Bürgerversammlung war emotional. Aber die Diskussionen zeigten, dass selbst kontroverse Themen gemeinsam angegangen werden können.
Dank der Bürgerversammlung nimmt Irland jetzt weltweit eine Spitzenposition ein, wenn es darum geht, repräsentative Demokratie (Parlament), deliberative Demokratie (Miniöffentlichkeiten) und direkte Demokratie (Referenden) miteinander zu verknüpfen. Alle sind beteiligt. Die Macht von Parlament und Regierung wird dadurch nicht geschmälert. Ganz im Gegenteil: Durch die Bürgerversammlung in Irland 2016 – 2018 gewannen sie in den Augen der Bevölkerung an politischer Autorität und Legitimität.
Deliberation in Irland - kein Einzelfall
Es gab einen Vorläufer: Den irischen Verfassungskonvent (2012-14), bestehend aus 33 Abgeordneten, 66 zufällig ausgewählten Bürger:innen und einem Vorsitzenden. 2015 kam es dadurch zu einem Verfassungsreferendum und zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Das war bahnbrechend für deliberative Demokratie in Irland.
Aktuelle Entwicklung
Irland löste zwei große soziale Konflikte durch die Beteiligung der Bürger:innen. Anknüpfend an den Erfolg wurde im Februar 2020 eine weitere Bürger:innenversammlung ins Leben gerufen. Sie besteht aus 99 zufällig ausgewählten Bürger:innen, die die Frage der Gleichstellung der Geschlechter in Bereichen wie Entlohnung, Führungspositionen und Pflege evaluieren.
Message to go:
Autor
Dr. Dominik Hierlemann
dominik.hierlemann@bertelsmann-stiftung.de
Tel. +49(5241)81-81 537
Senior Expert, Projekt Demokratie und Partizipation in Europa
Bertelsmann Stiftung
Weiterführende Literatur
Farrell, D. M., Suiter, J., & Harris, C. (2019).
‘Systematizing’ constitutional deliberation: the 2016–18 citizens’ assembly in Ireland.
Eine Studie mit Beschreibung der Ursprünge, Funktionsweise und Auswirkungen der Bürgerversammlung in Irland von 2016 bis 2018.
www.citizensassembly.ie
Informationen über die Arbeit der Versammlung, alle offiziellen Unterlagen, Sitzungsinhalte und Zusammenfassungen weiterer Eingaben.
Impressum
Zukunft der Demokratie
© Dezember 2020 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Anna Renkamp, Dr. Robert Vehrkamp
Titelbild: © GettyImages/AFP/ PAUL FAITH / Kontributor
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Programm Zukunft der Demokratie der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht es in unregelmäßigen Abständen.
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Gefördert (teilweise) durch einen Zuschuss der Stiftung Open Society Institute in Zusammenarbeit mit der OSIFE der Open Society Foundations. Unterstützt (teilweise) durch einen Zuschuss der King Baudouin Foundation.