Arne Weychardt

Kommentar: Entscheidungsspielräume ausschöpfen

Bereits 2030 wird die Hälft der Bevölkerung Deutschlands älter als 50 Jahre sein. Diese Entwicklung ist nicht umkehrbar. Es werden 500.000 Vollzeitkräft in der Pflege fehlen. Aber der demographische Wandel bietet auch Chancen. Ein Kommentar von Dr. Brigitte Mohn, Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung.

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Deutschland wird immer älter

Die demographische Entwicklung stellt die gesamte Gesellschaft vor erhebliche Herausforderungen, denn Deutschland wird immer älter. Bis zum Jahr 2030 wird die Hälfte der Bevölkerung zur Gruppe der über 50-Jährigen gehören. Der Anteil der Hochbetagten, also der Menschen über 80, wird um fast 60 Prozent steigen. Und mit zunehmendem Alter steigt die Zahl der Pflegebedürftigen - bis zum Jahr 2030 bundesweit um rund 50 Prozent auf 3,4 Millionen. Demgegenüber ist die Zahl der Menschen, die in der Pflege arbeiten, eher rückläufig: Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen werden 2030 fast 500.000 Vollzeitkräfte in der Pflege fehlen.

Die Zunahme von Einpersonenhaushalten, veränderte Familienkonstellationen, die erhöhte Erwerbstätigkeit von Frauen und die in hohem Alter garvierender werdenden Krankheitsverläufe verstärken die zu erwartende Versorgungslücke. Die Bereitschaft zur Pflege durch Angehörige, Freunde und Nachbarn steht vielfach im Konflikt mit Anforderungen der Erwerbstätigkeit. Solange Pflege und Beruf nur eingeschränkt vereinbar sind, werden immer weniger Menschen im eigenen Haushalt gepflegt werden können. Mit Blick auf die Lücke, die sich zwischen Bedarf und Fachkräfteangebot auftut, wird daher bereits von einem drohenden „Pflegenotstand“ gesprochen.

Der demographische Wandel bietet auch erhebliche Chancen. Kein Grund den Kopf in den Sand zu stecken.

Alle politischen Ebenen sind gefordert

Zweifelsohne birgt der demographische Wandel aber auch erhebliche Chancen: Die Menschen bleiben länger gesund und leistungsfähig - weit über das Ende der Erwerbstätigkeit hinaus. Jenseits der Kernfamilie bilden sich neue soziale Netzwerke in der Nachbarschaft und dem Freundeskreis. Die Potenziale für bürgerschaftliches Engagement sind auch bei der Pflege vermutlich bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Es gibt also – auch angesichts düsterer Prognosen – keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.

Vielmehr gilt es, die Herausforderungen besser zu meistern. Um die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, sind alle relevanten politischen Handlungsebenen gefordert: Auf Bundesebene müssen Finanzierungsanreize so gesetzt werden, dass die  Kooperation vor Ort gefördert und nicht behindert wird. Länder und Kommunen müssen gemeinsam von der Sozialpolitik bis zur Stadtplanung Case- und Care-Management in den Quartieren vorantreiben. Dabei geht es darum, freiwillig engagierte Angehörige, Freunde oder Nachbarn durch entsprechende Angebote zu entlasten.

Pflegebedürftigkeit ist nicht das Ende der Mündigkeit

Für Angehörige und erst recht für die Pflegebedürftigen selbst gilt: Je notwendiger es in dieser Situation ist, den Überblick zu behalten, desto leichter können einem die vielen Anforderungen und Fragen über den Kopf wachsen. Wie lässt sich die häusliche Lebenssituation des Pflegebedürftigen verbessern? Welche Unterstützung braucht er? Wer kann diese Hilfe leisten, und wer trägt dafür welche Kosten? Habe ich das Recht, Leistungen nach meinen Bedürfnissen zu wählen oder entscheidet darüber die Pflegekasse bzw. der Pflegedienst? Pflegebedürftigkeit ist jedoch nicht das Ende der eigenen Mündigkeit.

Im Gegenteil: Der Gesetzgeber hat die Entscheidungsspielräume der Pflegebedürftigen sogar erweitert. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen können ambulante Pflegeleistungen auswählen und individuell bestimmen. Je transparenter Leistungen und deren Kosten sind, desto zielgenauer und bedarfsgerechter können Angebote die Pflegenden unterstützen. So wird es auch für einen längeren Zeitraum möglich sein, in der eigenen häuslichen Umgebung zu bleiben. Dadurch verbessert sich die Qualität der Pflege und die Kostenbelastung für die Angehörigen kann reduziert werden. Vor allem aber erhöht dies die Lebensqualität der Betroffenen.

Anmerkung: Der Kommentar ist erstmals in der Ausgabe 3/2013 im Magazin "change" der Bertelsmann Stiftung erschienen.

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