Von „wahrer Freiheit“ und anderen Gefahren für die Demokratie
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 2015 verstarb der französische Philosoph und Publizist André Glucksmann.
Als kritischer Intellektueller war der 1937 geborene Glucksmann ein vehementer Fürsprecher von Demokratie und einer offenen Gesellschaft. Seine Erfahrungen aus der französischen Studentenrevolte von 1968 und die Konfrontation mit der kommunistischen Wirklichkeit verarbeitete er zu einer radikalen Totalitarismus- und Utopiekritik. Im Februar 2012 führte André Glucksmann auf Einladung der Bertelsmann Stiftung in Berlin ein Gespräch mit dem polnischen Publizisten Adam Michnik. In dem Gespräch beschäftigen sich die beiden Intellektuellen mit dem Übergang zur Demokratie in Mittel- und Osteuropa, mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen in West- und Osteuropa und mit der Gefahr eines neuen Autoritarismus in Europa – Themen, die heute fast aktueller erscheinen als zum Zeitpunkt, an dem das Gespräch geführt wurde.
Aus Anlass des Todes von André Glucksmann veröffentlicht die Bertelsmann Stiftung den Text des Gespräches online. Der Text ist dem Buch „Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Europas Zukunft – Anstöße aus Deutschland, Frankreich und Polen“, das im Verlag Bertelsmann Stiftung erschienen ist, entnommen.
Von „wahrer Freiheit“ und anderen Gefahren für die Demokratie
Ein Gespräch zwischen André Glucksmann und Adam Michnik
Warten im Flughafen Tegel. Der Flieger aus Paris hat mehr als eine halbe Stunde Verspätung. Das Zeitkorsett ist eng geknüpft. André Glucksmann und Adam Michnik werden am Abend an einer Veranstaltung der Heinrich Böll Stiftung teilnehmen. Vorher wollen sie sich noch zu einem Gespräch für unser Buch zusammensetzen. Die Frage nach Freiheit und Demokratie in Europa ist Triebfeder der Arbeit von beiden seit Jahrzehnten. Endlich ist Glucksmann da. Wir erwischen eines der wartenden Taxis, müssen Michnik, der schon in Berlin ist, im Hotel abholen. Wir sprechen auf der Fahrt über Georgien. Glucksmann ist oft dort, beobachtet und unterstützt die Demokratisierung des Landes. Michnik steigt in Berlin Mitte zu. Das Gespräch wird lebhafter, beide kennen sich seit Jahren. Sprünge manchmal in einem Satz zwischen Französisch, Polnisch, Deutsch und Englisch. Der Taxi-Fahrer fragt mich, wer die beiden Herren denn seien. Er kenne viele der Namen, die im Gespräch gefallen sind. Er selbst übersetze deutsche Lyrik ins Türkische, gebe eine deutsch-türkische Literaturzeitschrift heraus. Glucksmann und Michnik sind begeistert. Enthusiastisch wird über Yaşar Kemal und Orhan Pamuk debattiert, Autogramme wechseln die Seiten. Dann sind wir da.
Wir sitzen in der Bar des Berliner Hauses der Bertelsmann Stiftung. Rauchen verboten! Michnik greift reflexartig zu einer elektrischen Zigarette. Kaffee wird serviert.
Lieber Herr Michnik, lieber Herr Glucksmann. Haben Sie vielen Dank für die Gelegenheit zu diesem Gespräch. Wir sitzen in der Mitte Berlins. Vor etwas mehr als 20 Jahren wäre ein Treffen zwischen uns an dieser Stelle undenkbar gewesen. Herr Michnik, verstehen Menschen aus West und Ost heute dasselbe, wenn man „Freiheit“ sagt?
Adam Michnik: Zunächst ist Freiheit erst einmal ein Wert, den wir nur dann zu schätzen wissen, wenn er fehlt. Wenn wir die Freiheit haben, beschweren wir uns über sie. Wir sagen dann, sie sei beschränkt, unvollständig, unvollkommen, nur für die Reichen, oder dass sie eigentlich keine Freiheit, sondern einfach nur Anarchie sei.
Zudem lässt sich auch sagen, dass jede Revolution, jede große Veränderung eine Vielzahl unzufriedener Menschen hinterlässt. So ist es auch heute in Mittel- und Osteuropa. Hier sind wir Zeugen einer Offensive der „wahren Freiheit“. Diese „wahre Freiheit“ trägt Namen wie Lukaschenko und Janukowytsch. Die „wahre Freiheit“ heißt aber auch Putin und die „wahre Freiheit“ heißt Viktor Orban. Und das funktioniert auch in meinem Land, in Polen. Hier entspricht diese „wahre Freiheit“ dem Projekt einer neuen, IV. Republik von Jaroslaw Kaczyński und seinen Freunden.
André Glucksmann – lacht –: Ich erkenne hier den echten Michnik und seinen Sinn für das Paradoxe sehr gut wieder! Aber diesbezüglich gibt es hier keinen wirklichen Gegensatz. Es ist richtig, dass die Freiheit ein strategischer Begriff ist; erst angesichts der Feinde der Freiheit (das heißt Putin und Konsorten), die dafür stehen, was du „wahre“ Freiheit nennst, versteht man, was authentische Freiheit ist. Die französische revolutionäre Verfassung von 1793 wurde übrigens nie angewandt, aber – und das ist das Interessante daran – sie besagt, dass die Notwendigkeit, die Menschenrechte und in erster Linie, die Freiheit zu behaupten, die konkrete Erfahrung des Despotismus voraussetzt. Dies bedeutet, dass nur diejenigen, die den Despotismus erfahren haben oder mit ihm konfrontiert sind, wissen, was Freiheit ist.
Muss die Freiheit dann zwangsläufig unvollkommen sein?
André Glucksmann: Václav Havel sagte einmal, man solle nicht auf Godot warten. Denn wenn man auf Godot wartet, erscheint der kommunistische Godot, also der mit der „wahren Freiheit“. Freiheit ist immer negativ und unvollkommen, deswegen aber nicht kleiner, sondern vielmehr größer. Und genau dies haben wir im 20. Jahrhundert exemplarisch erlebt. Einerseits hat Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Schreckliches erfunden, den totalen Krieg und die totalitäre Revolution. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine Minderheit von Europäern das Gegengift zu all diesen Katastrophen erfunden, die samtenen Revolutionen, den Gedanken der Dissidenz. Das ist ein ganz neues Modell, es sind andere Revolutionen, die sich von den jakobinischen und selbstverständlich noch mehr von denen des Leninismus unterscheiden.
Adam Michnik: Das erinnert mich daran, dass wir beide, André und ich, von Havel zum großen Jahrestag der „samtenen Revolution“ eingeladen wurden. André sprach hier sozusagen im Namen des Westens sprach, und ich im Namen des Ostens.
André Glucksmann: Wir beide waren die einzigen, denen es erlaubt war, zu sprechen, die anderen durften nur singen, so wie Joan Baez.
Was ist das Besondere an diesem neuen Modell der Revolution?
André Glucksmann: Letztendlich sind die samtenen Revolutionen die der Mehrheit. Es ist eine Mehrheit der Deutschen, Tschechen, Polen, die letztendlich entweder agieren oder den Umsturz des alten Regimes akzeptieren. Es sind nicht mehr die Revolutionen nach einem jakobinischen Modell, die von einer zur gewalttätigen Machtergreifung bereiten Minderheit organisiert wurden. Es sind auch die sanften Revolutionen, die nicht auf Blut gebaut werden, die das Blutvergießen weitestgehend verhindern und dem Feind die Gelegenheit zu töten, wegnehmen. Daraus ergeben sich Revolutionen, die niemals enden. Heute gibt es keine definitive, absolute Freiheit. Dafür haben wir die Fähigkeit, einfacher und besser für die Freiheit zu kämpfen.
Gibt es Ihrer Ansicht nach Unterschiede zwischen Ost und West in der Bewertung der Wende und ihrer Konsequenzen?
André Glucksmann: Ich glaube, dass man sich weder im Osten noch im Westen über die tatsächliche Dimension der Ereignisse bewusst geworden ist. Alle waren irgendwie enttäuscht. Westeuropa war enttäuscht, weil die Polen, die Tschechen und all die anderen ihre eigenen Widersprüche, ihre eigenen Schwierigkeiten eingebracht haben. Und die Osteuropäer übersehen bei der Suche nach der vollkommenen Freiheit, dass das Vollkommene die Befreiung selbst ist. Dabei hat diese Befreiung das Antlitz Europas verändert, hat das sowjetische Imperium zerstört und wirkt heute noch in Europa, zum Beispiel in Georgien und in der Ukraine, wenn auch mit Höhen und Tiefen und auch Rückschlägen. Sie wirkt schließlich auch in Moskau. Die Ansteckung breitet sich auch weiter aus, mit Höhen und Tiefen sowie Rückschlägen, mit Schwierigkeiten wie 2009 im Iran zum Beispiel, in den arabischen Ländern und auch in China; dort wurde die Charta 2008 – die an die Charta 77 erinnert – von 150.000 Intellektuellen unterzeichnet. Egal ob „große“ oder „kleine“ Intellektuelle, Blogger, die mit ihrem Namen unterzeichnet haben – alle haben es im Bewusstsein der Risiken, die dies für sie bedeutete, gewagt. Es gibt dort also eine Dynamik der Befreiung, die der Erfolg, der Triumph des europäischen oppositionellen Gedankens, des Gegengiftes zum Totalitarismus ist.
Adam Michnik: Ich bin absolut mit dem einverstanden, was du zum Thema Russland und China sagst. Ich kenne viele Russen sehr gut. Und ich war immer gegen ein solches rassistisches Denken, dass Freiheit für die anderen sei, aber nicht für die Russen, weil sie eine unterwürfige Nation seien. So habe ich nie gedacht. Ich habe dieses Denken in Polen immer bekämpft und tue es weiter.
André Glucksmann steht auf und setzt sich auf den Boden zu Füßen von Adam Michnik.
André Glucksmann: Ich habe dazu in Frankreich immer gesagt, dass man Puschkin nicht mit Putin verwechseln darf, dass es zwei Russlands gäbe und dass das Kreml-Russland nicht mit dem russischen Imperium gleichzusetzen sei.
Adam Michnik: Absolut! Damit bin ich absolut einverstanden, hundertprozentig. Kurz zu China: Ich war vor anderthalb Jahren dort, habe die oppositionellen Kreise dort getroffen. Ich hatte ein Déjà-vu. Weil sie wie wir polnische Dissidenten vor dreißig Jahren waren: sogar genauso ungeduldig, genauso mutig, genauso angezogen. Das war einfach unglaublich! Ähnliche Dilemmata, ähnliche Paradoxien, denen sie ausgesetzt sind. Ich denke, dass sich China schon in einer ähnlichen historischen Phase befindet, wie wir in Mittel-Osteuropa kurz vor der Wende in den 1980er Jahren. Dies ist nur den vielen Beobachtern aus dem Westen bisher verborgen geblieben.
Damals war es übrigens auch schon so, dass der Westen nicht fähig war, die Unruhe wahrzunehmen: Die Journalisten von Zeitungen wie "Le Monde" oder der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" kamen nach Polen, trafen sich mit dem eigenen Botschafter, eventuell mit jemandem von der Kirche, und schon wussten sie alles über Polen. Sie fuhren zurück und schrieben, dass es dort zwar ein paar Dissidenten gebe, aber dass sie keine große Bedeutung haben. Willy Brandt und Helmut Schmidt haben sogar daran geglaubt!
André Glucksmann: Eine kleine Anekdote: Solschenizyn war in Moskau. Er hatte bereits den Nobelpreis und er wurde bereits verfolgt, war aber noch nicht vor die Tür gesetzt worden. Er hat der Zeitung „Le Monde“, von der du gerade sprachst, angeboten, ein- oder zweimal im Monat einen Artikel zur Lage in Russland zu machen. Und „Le Monde“ hat ihm geantwortet: „Wir haben bereits unseren Korrespondenten in Moskau“.
André Glucksmann sprach gerade von einer „Dynamik der Befreiung“. Gleichwohl wehren sich die autoritären Regime gegen die Freiheit und auch in Europa scheinen autoritäre und populistische Antworten wieder Mode zu sein. Welche Mechanismen stehen dahinter?
Adam Michnik: Putin beruft sich auf die Mythologie des „Großen Russland“, dabei nutzt er gleichzeitig eine Art sozialistisch und anti-intellektuell gefärbten Populismus. Lukaschenko und Janukowytsch hingegen – auch wenn sie sich in mancher Hinsicht unterscheiden – berufen sich einfach auf sowjetische Muster. Orban wiederrum hält die Flagge des Antikommunismus hoch. Letztlich ist es nicht so wichtig, ob die Sprache des Post-Kommunismus oder des Post-Antikommunismus gesprochen wird. Wichtiger ist die Auseinandersetzung darüber, was der Staat sein soll: Ein autoritärer oder ein demokratischer? Soll es eine offene oder eine geschlossene Gesellschaft sein? Darin liegt der Kern.
Wenn ich aus dieser Perspektive auf Mittel- und Osteuropa blicke, spüre ich jedoch eine Art Schizophrenie in mir, weil ich einerseits der Überzeugung bin, dass Polen ein Land großer Erfolge ist, dass die Polen es geschafft haben. Es ist wahrscheinlich die meist gelungene Transformation in Mittel- und Osteuropa überhaupt. Aber ich sehe gleichzeitig die vielen Fallen, die stets offen sind und bereit, zuzuschnappen. Es sind populistische, ausländerfeindliche Tendenzen sowie ein fundamentalistischer Klerikalismus. Sie sind zwar in der Minderheit, aber es ist eine starke Minderheit.
Eine weitere große Gefahr ist meines Erachtens die komplette Polarisierung der öffentlichen Meinung. Dies bezieht sich dabei nicht alleine auf die mittel- und osteuropäischen Länder. Wer auf die Kampagne zur Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten schaut, sieht dort dieselbe Polarisierung. Wenn seriöse Menschen allen Ernstes behaupten, dass Obama den Kommunismus in Amerika einführen will, dann haben wir es mit einem Irrenhaus zu tun und nicht mit einer politischen Debatte in der größten Demokratie der Welt. Jaroslaw Kaczyński, der Oppositionschef in Polen, lässt verlautbaren, dass es kein souveränes Polen unter einem deutsch-russischen Kondominium geben kann. Weder in Deutschland noch in Russland kann das irgendjemand verstehen. Aber es stellt sich heraus, dass in diesem intellektuellen Klima alles gesagt werden kann – und das ist sehr gefährlich.
Die polnischen Autoren unseres Buches zeigen, dass es schon während der großen Transformation in Polen scharfe Auseinandersetzungen um die richtige Definition von Begriffen wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität gab.
Adam Michnik: Als wir Polen die Freiheit wieder erlangten, wusste ich, dass das Schlimmste hinter uns, aber das Schwierigste noch vor uns lag. Die Slogans der Gegner der Reform waren anti-egalitär. Demgegenüber stand die These der radikalen aber diskreditierten kommunistischen Kreise: „alle Mägen sind gleich“. Obsiegt hat in den ersten zehn Jahren im intellektuellen Sinne ganz klar der totale und recht orientierte Antikommunismus – sehr rechts orientiert! Ein populäres Symbol dafür war Radio Maryja. Die Zeitschriften, die Verlage, die rechts orientierte Denkprojekte anboten, waren damals katholischer als der Papst. Jetzt kann man beobachten, wie sich die Dinge umdrehen. Zum Beispiel haben sich Milieus entwickelt, die in der linksorientierten Tradition wurzeln, in der linksorientierten Sprache.
Nach wie vor besteht aber die Gefahr, dass wir eine Wiederauflage des Konfliktes mit einer nicht modernisierten Rechten haben. Denn das Problem aller Transformationsländer ist es, dass es dort keine zivilisierte Rechte gibt. Als sich nach der Nazi-Zeit die Christliche Demokratie in Westdeutschland herausbildete, war Adenauer der Repräsentant der zivilisierten Rechte. In den ehemals kommunistischen Ländern existiert eine solche Rechte nicht, es ist eine barbarische Rechte. Das kann meines Erachtens ein Problem für ganz Europa werden, weil wir heute überall in Europa diese populistischen Tendenzen sehen. Ich erinnere mich daran, welcher Schock es für mich war, als Le Pen es in den zweiten Wahlgang in Frankreich geschafft hat. Aber wäre es jetzt sein Töchterchen, da würde ich keinen so großen Schock erleben, es gibt schon Anzeichen dafür, dass sie sich fast im Mainstream befindet. Da sehe ich ein Problem.
André Glucksmann: Ich glaube, es stellt für ganz Europa ein Problem dar. Das erste Mal habe ich das anhand der Figur von Milošević gesehen. Er gehörte so wie seine Frau zu dem linksextremen Lager, zu den linksextremen Marxisten und hatte zugleich rassistische und xenophobe Handlanger, die der Rechtsextremen angehörten.
Adam Michnik: Ich habe 1989 die These vertreten, dass das letzte Stadium des Kommunismus der ethnische Nationalismus ist.
André Glucksmann: Ja, ich bin damit einverstanden, aber ich würde nicht sagen, dass es das letzte ist. Was ich glaube, ist, dass heute die Konzepte von einer Seite zur anderen fliegen. Man kann fremdenfeindlich und gleichzeitig Kommunist sein, sogar Internationalist, usw. Wir sind in einer postmodernen Phase, in der man eigentlich alles Mögliche sagen darf.
Könnten die Europäer auf internationalem Parkett mutiger die Demokratie verteidigen?
André Glucksmann: Ich glaube, dass es, genau genommen, um eine tiefgehende, europäische Feigheit geht. Die Chinesen und die Russen – der Kreml – haben ihr Veto gegen jegliche Intervention in Syrien eingereicht. Aber sie agieren seit Langem gemeinsam gegen jede Einmischung. Im Namen des vermeintlichen obersten Gesetzes, könne die Regierung in ihrem Land alles tun, was sie will. Selbst intervenieren sie aber, wie es ihnen am besten passt. Die chinesische und die russische Macht verstehen sich nicht, aber dabei geht es nicht um den Kommunismus, sondern um eigene Interessen. Eigene Interessen, bei denen nicht nur das Finanzielle eine Rolle spielt, sondern der Erhalt der Macht. Sie unterstützen den Iran, gegen mögliche Sanktionen der UNO. Nicht nur Syrien.
Und meiner Meinung nach ist es diese Vereinigung, die bemerkenswert ist. Ich habe eben gesagt, dass es eine Freiheitsbewegung gibt, die aus der europäischen Bewegung der Dissidenz hervorgegangen ist und sich über den Globus, inklusive dem Mittelmeerraum und China verbreitet hat. Wenn es eine solche Bewegung gibt, von einer neuen revolutionären Art, sehen wir, wie ihr gegenüber eine Gegenrevolution seitens derer entsteht, die von ihr bedroht werden, das heißt der Kreml, Peking, der Iran, und selbstverständlich Syrien.
Und was tut nun Europa angesichts dieser Macht der Konterrevolution der „Konter-Dissidenz“ gegen die Revolution der Dissidenten? Was tut das westliche Europa, die Europäische Union? Ganz Westeuropa hat nichts getan, um Putin im Zaun zu halten, absolut nichts. Die Gasleitung durch die Ostsee wurde von Russland und Deutschland gegen die Polen gebaut, gegen die Ukrainer, gegen die baltischen Länder. Ein anderes Beispiel ist Frankreich. Natürlich hat Sarkozy gesagt, es gäbe ein Problem mit den Tschetschenen, gleichzeitig liefert er ein Kriegsschiff an Russland.
Und was ist mit den Demonstrationen, die im Dezember 2012 begannen?
Ich glaube, es gibt eine grundsätzliche Bereitschaft, den Despotismus Putins und seine Gefahr nicht zu wahrzunehmen. Und der Beweis dafür ist, dass sämtliche westliche Mächte völlig von der Bewegung im Dezember 2012 überrascht waren. Sie waren fassungslos. Putin war seriös, stabil, usw., Medwedew war der Gute, Nette, und dann plötzlich das. Seit Beginn des Tschetschenien-Krieges, seit 2000 also, das heißt also seit der Machtergreifung Putins habe ich nicht aufgehört, darüber zu sprechen. Aber es gab keine Reaktion. Und dann demonstrierten auf einmal 100.000 Moskauer. Man musste zugeben, dass es zwischen Putin und Puschkin, zwischen dem KGB-Russland und der russischen Kultur, den kultivierten Russen, den Demokraten, eine Kluft gibt.
Adam Michnik: Du schaust auf Europa mit den Augen eines russischen Demokraten und Idealisten. Meine Liebe zu Europa ist eine illusionslosere. Denn Europa war immer so, wie Du es beschrieben hast, es war nie anders. Europa war immer egoistisch und schaute nach den eigenen Interessen. Gleichwohl gebe ich Dir Recht. Europa muss eine Strategie entwerfen, mit der es die russischen oder ukrainischen Demokraten reell unterstützen kann. Ich denke, dass sich schon etwas getan hat. Es ist zwar ein langsamer Prozess, aber etwas bewegt sich. Natürlich hat Europa ein Problem mit Russland und wird es weiterhin haben. In Russland kann man keine humanitäre Intervention machen wie in Bosnien. In diesem Zusammenhang muss man hier nach Lösungen suchen die realistisch sind und es muss den Leuten klar gemacht werden, dass die Auswirkungen dieser Politik nicht von heute auf morgen kommen werden.
Ich war zwei Mal in Burma, das erste Mal war es ein vollkommen terrorisiertes Land, die Leute hatten Angst zu reden, usw. In der Nacht traf ich mich mit Dissidenten, wie Du in Tschetschenien. Jetzt sehe ich, dass der Prozess des Auftauens dort angefangen hat und dass dies ein Resultat der Wirtschaftssanktionen ist. Es ist also notwendig, den Leuten zu erklären, dass diese Sanktionen effektiv sind, wenn man ihnen dafür die Zeit lässt. In Polen, in Burma, in Südafrika hat sich diese Politik als effektiv erwiesen. Man muss das aber immer konkret machen: Zu welchem Zeitpunkt? Welche Sanktionen? In welchem Ausmaß? Für uns Polen sind dies erstrangige Fragen, weil wir Grenzen zu Russland, Weißrussland und der Ukraine haben. Wir müssen deshalb eine flexible Politik betreiben. Das heißt, dass wir zum Beispiel die Handhabung der Visa für die normalen Weißrussen lockern sollten, und für Lukaschenkos Banditen verschärfen sollten.
André Glucksmann: Und für Folterknechte.
Adam Michnik: Natürlich, klar.
André Glucksmann: Ich möchte etwas hinzufügen. Im Großen und Ganzen bin ich einverstanden, ich denke nicht, dass man Russland überfallen kann. Es stimmt, dass Europa immer seine Interessen verfolgt hat. Aber es gibt falsche, kurzfristige Interessen und es gibt langfristige, authentische Interessen.
Erstens ist es nicht das Interesse Europas – des egoistischen oder was immer du willst Europas -, dass Russland als Großmacht in Energiefragen es erpresst. Zweitens liegt es nicht im Interesse Europas, dass die zweite nukleare Weltmacht von innen her völlig unkontrolliert bleibt, dass der Kreml absolut alles machen kann, was er will, ohne irgendeine Kontrolle durch die russische öffentliche Meinung. Drittens liegt es nicht im Interesse Europas, dass die in Russland allgegenwärtige Korruption sich auf den Rest der Welt ausbreitet. Es gibt da ein reelles Risiko für Westeuropa, für die Europäische Union, Russland, dem Kreml ausgeliefert zu sein. Und darüber verliert niemand ein Wort. Weder Angela Merkel, noch die Konservativen, weder die Linke, noch die Grünen, niemand. Und das wird ein ernstes Problem. Das liegt nicht im Interesse Europas.
Worum es hier geht, das ist die Illusion der Europäer, dass Putin stark ist und dass nichts gegen ihn zu machen ist. Dabei könnte man an dieser Stelle das Russland der Menschenrechte unterstützen, das Russland, das demokratisch sein möchte. Das tut Europa überhaupt nicht.
Meiner Meinung nach wird das 21. Jahrhundert das Jahrhundert des Kampfes der Menschenrechte gegen die Korruption sein. Denn solange es gar keine Menschenrechte gibt, hat die Korruption die Oberhand. Sie kann sich alles erlauben. Das ist genau das, was Anna Politkowskaya sagte: „Alles in Russland ist korrupt“.
Adam Michnik: Anna Politkowskaya ist den kritischsten Weg gegangen.
André Glucksmann: Ein demokratisches Land hat zwangsläufig eine Opposition.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Wir treten vor das Haus. Das Taxi wartet schon, muss aber auch noch länger warten. Michnik raucht vor dem Einsteigen eine echte Zigarette. Beim Einsteigen ins Taxi steckt schon wieder eine elektrische Zigarette im Mundwinkel. Der Taxifahrer begrüßt uns auf Polnisch.
Das Gespräch führten Armando García Schmidt und Cornelius Ochmann im Februar 2012 in Berlin.