Ralph Heck, Liz Mohn, Olaf Scholz, Daniela Schwarzer

Mehr Zuversicht wagen: Auftaktveranstaltung zu "Demokratie stärken!"

Mit Olaf Scholz als prominentestem Gast stellte die Bertelsmann Stiftung ihr Jahresthema „Demokratie stärken!“ in Berlin vor. Der Bundeskanzler appellierte an die demokratische Verantwortung aller Bürger:innen und warb dafür, die Zukunft mit Zuversicht zu gestalten: „Demokratie, das sind wir“. Auf Grundlage der ebenfalls vorgestellten Ergebnisse des neuen Transformationsindexes der Bertelsmann Stiftung diskutierten im Anschluss namhafte internationale Expert:innen über Status quo, Bedrohung und Perspektiven der Demokratie weltweit.

Inhalt

Bei der Vorstellung ihrer Prioritäten für 2024 konnte die Bertelsmann Stiftung in ihrem Berliner Haus am Werderschen Markt Bundeskanzler Olaf Scholz zu einer Podiumsdiskussion mit dem Politologen Ivan Krastev und unserer Vorständin Daniela Schwarzer begrüßen. Neben Liz Mohn und Mitgliedern des Kuratoriums der Bertelsmann Stiftung folgten viele weitere namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien der Einladung zu dieser Debatte. „Demokratie stärken!“ ist das richtige Thema zur richtigen Zeit, wie der Tag in Berlin zeigte.

Warum die Stiftung diesen Schwerpunkt gewählt hat, umriss unser Vorstandsvorsitzender Ralph Heck in seiner Begrüßung: „Der Fortbestand der Demokratie und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind Kernanliegen unserer Stiftungsarbeit. Gerade in der gegenwärtigen Situation mit vielen geopolitischen Herausforderungen erscheint die Arbeit dazu wichtiger denn je.“ Heck nutzte die Gelegenheit, um dem Bundeskanzler sowie allen politisch engagierten Menschen in Deutschland dafür zu danken, dass sie sich täglich für das Wohl der Gesellschaft sowie die Bewahrung demokratischer Werte einsetzen.

"Demokratie lebt von uns als Bürgerinnen und Bürger"

Dass die deutsche Öffentlichkeit in den vergangenen Monaten so intensiv wie lange nicht mehr über Zustand und Wehrhaftigkeit der Demokratie diskutiert hat – in den Parlamenten, in den Medien aber auch auf den Straßen – stellte unsere Vorständin Daniela Schwarzer zu Beginn des von ihr moderierten Podiumsgesprächs zwischen dem Bundeskanzler und dem bulgarischen Politologen Ivan Krastev heraus. Olaf Scholz griff diesen Befund direkt auf und betonte: „Es gibt eine breite Unterstützung für die Demokratie, für den Rechtsstaat und die soziale Marktwirtschaft. Darauf kann man aufbauen.“ Unsere Demokratie sei weder Theaterstück noch Fernsehprogramm, so der Kanzler, sondern: „Demokratie sind wir. Sie lebt von uns als Bürgerinnen und Bürger und wir müssen sie beschützen.“ Sehr wichtig sei daher laut Scholz die Botschaft gewesen, die von den zahlreichen Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus überall im Land ausgegangen sei. Sie hätten den falschen Eindruck vom angeblich unaufhaltsamen Siegeszug der Rechtspopulisten eindrucksvoll widerlegt.

Auch Ivan Krastev unterstrich, dass die rechten Parteien in Europa nicht ungebrochen auf dem Vormarsch seien. „Sie möchten eine Reise in die Vergangenheit. Aber Vergangenheit macht keine Zukunft“, sagte der Vorsitzende des Centre for Liberal Strategies. Allerdings erlebe jedes europäische Land die multiplen Krisen dieser Zeit unterschiedlich stark. In Deutschland werde die Migration als größtes Problem wahrgenommen, in Polen und im Baltikum dagegen der Ukraine-Krieg und im Süden Europas eher die wirtschaftliche Situation, erläuterte Krastev. Daher könne es nicht die eine, koordinierte europäische Antwort zur Lösung der Krisen geben. Diesen Umstand nutzten rechtsorientierte Kräfte geschickt aus. Hinzu kommt: Die Zukunftsangst der Deutschen entspringe vor allem der Sorge vor Wohlstandsverlust. „Im Nachkriegsdeutschland hat die Wirtschaftsleistung die Demokratie gestützt. Nun ist das Land in gewisser Weise Opfer des eigenen, jahrzehntelangen Erfolgs. Daher wird es die Bundesrepublik schwer haben, wenn es ihr und der EU nicht gelingt, wettbewerbsfähig zu bleiben.“

Zukunft wird aus Mut gemacht

Olaf Scholz stimmte zu, dass Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt viel zu verlieren habe, stellte aber auch klar: „Die Erklärung, dass Menschen deshalb rechts wählen, weil sie es angeblich schwer haben, akzeptiere ich nicht.“ Von Daniela Schwarzer auf die erodierende Zuversicht vor allem in der Mittelschicht angesprochen, erwiderte Scholz: „Wir können nur zuversichtlich in die Zukunft schauen, wenn wir sie uns selbst erschließen.“ Die Zukunft werde uns nicht einfach übergestülpt, sondern es brauche Gestaltungswille. Der Bundeskanzler benannte vier Handlungsfelder, die aus seiner Sicht zentral sind, um die Zuversicht in Deutschland zu heben: Mehr Geschwindigkeit in der Bürokratie. Mehr kontrollierte Zuwanderung von Fachkräften und weniger illegale Migration. Mehr Investitionen in Sicherheit und Verteidigung. Sowie, gesamtgesellschaftlich, mehr Optimismus beim technologischen Fortschritt als Schlüssel zum Erhalt unseres Wohlstands.

Wenn die Wehrhaftigkeit der Demokratie im Mittelpunkt steht, ist die Frage nach den Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine nicht weit. Olaf Scholz verdeutlichte: „Das Aufkündigen der Übereinkunft, dass Grenzen in Europa nicht mehr durch Gewalt verschoben werden sollen, ist eine Bedrohung für uns alle.“ In Bezug auf die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland äußerte der Bundeskanzler den Wunsch nach mehr Abwägung und weniger Aufregung. Ivan Krastev erinnerte daran, dass auch der Ukraine-Krieg die unterschiedlichen Perspektiven der EU-Länder offengelegt habe: „In Deutschland und Frankreich dominiert die Sorge vor einem Nuklearkonflikt, in Polen oder im Baltikum aber vor einer Besetzung durch Russland.“ Dabei sprach sich der Politologe, dessen Heimatland Bulgarien bis Anfang der 1990er-Jahre zur sowjetischen Einflusszone zählte, für eine ungebrochene Unterstützung der Ukraine aus: „Wenn der Westen Munition liefert, beeindruckt das Russland viel mehr als hochtrabende Reden.“

Nicht nur im Kontext des Ukraine-Krieges forderte Ivan Krastev die größeren EU-Länder – allen voran Deutschland – dazu auf, stärker auf die Bedürfnisse der kleineren Mitgliedsstaaten einzugehen. Das sei insbesondere angesichts der bevorstehenden Wahl zum EU-Parlament wichtig. Der Wahlsieg des europafreundlichen Donald Tusk in Polen eröffne eine große Chance für mehr Geschlossenheit innerhalb der Europäischen Union. Der Bundeskanzler nahm den Ball auf und unterstrich die Bereitschaft der Bundesrepublik, dieser Verantwortung nachzukommen: „Als große Nation inmitten Europas müssen wir den Fortschritt der EU zu unserer nationalen Aufgabe machen“, sagte Scholz zum Abschluss des Gesprächs.

BTI-Ergebnisse: Demokratien weiter auf dem Rückzug

Die von Ivan Krastev erwähnte Entwicklung in Polen blieb auch im zweiten Teil der Veranstaltung präsent. Denn das Land in Osteuropa zählt zu den wenigen Lichtblicken im neuen Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (kurz BTI), wie das Publikum bei der Vorstellung der Kernergebnisse erfuhr. Alle zwei Jahre ermittelt der BTI, wie sich das Verhältnis von demokratisch zu autokratisch regierten Staaten verändert. Die schlechte Nachricht: Die Demokratie ist weiter auf dem Rückzug, von 137 untersuchten Ländern weltweit ist nur noch eine Minderheit von 63 Staaten demokratisch regiert. „Allerdings sehen wir auch, dass eine Trendumkehr möglich ist. Das zeigen die Wahlergebnisse in Polen und Brasilien, aber auch der Ablauf der Wahlen in afrikanischen Staaten wie Kenia und Sambia“, erklärte Sabine Donner, Senior Expert der Bertelsmann Stiftung. Ihr Kollege und BTI-Co-Autor Hauke Hartmann verwies zudem auf die Schwächen autokratischer Systeme: „Autokratien sind korrupter als Demokratien und sie haben ein schlechteres Konfliktmanagement, da sie nicht auf die Suche nach Konsens ausgerichtet sind.“

"Wenn sie erst an der Macht sind, ändern sie die Regeln"

In der anschließenden, wiederum von Daniela Schwarzer moderierten Diskussionsrunde zu den BTI-Ergebnissen sprach auch Nic Cheeseman die Defizite autokratischer Systeme an. Demnach würden sie die Hoffnungen der Bevölkerung auf mehr Wachstum und Wohlstand oftmals enttäuschen. Daher könne das Pendel in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren wieder zugunsten der Demokratie ausschlagen. „Aber das ist kein Automatismus“, so Cheeseman. Vielmehr mahnte der Professor für Demokratie und Internationale Entwicklung an der Universität Birmingham: „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, um die bestehenden Demokratien zu stärken, sitzen wir beim nächsten Mal hier und die Hälfte aller Staaten der Welt sind Autokratien.“

Zsuzsanna Szelényi, die sich im Zuge der demokratischen Transformation Ungarns Ende der 1980er-Jahre zunächst Fidesz anschloss, die Partei dann aber aufgrund deren Rechtsrucks verließ, beschrieb die autokratische Veränderung ihres Heimatlandes unter der Ägide Viktor Orbans: „Es gibt nichts Demokratisches mehr in Ungarn, es hat nur noch den Anstrich einer Demokratie.“ Daher rät die Politikwissenschaftlerin anderen Ländern, derartige Parteien mithilfe verfassungskonformer Maßnahmen gar nicht erst in Regierungsverantwortung kommen zu lassen. „Denn wenn sie erst an der Macht sind, ändern sie die Regeln zu ihren Gunsten.“

Neue Ideen, wie Demokratien den Wandel gestalten wollen

Ivan Krastev wies darauf hin, dass es ungeachtet Ungarns und weiterer Beispiele jedoch falsch sei, den Rechtspopulismus als osteuropäisches Phänomen zu betrachten. Schließlich gebe es auch in westeuropäischen Staaten wie Frankreich starke und gewachsene rechtspopulistische Bewegungen. Ihn sorge vor allem die Entwicklung der jungen Generation. Demnach brächten die Europäer:innen unter 28 Jahren von allen Bevölkerungsgruppen der Demokratie die größte Skepsis entgegen.

Trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungshorizonte konnten sich die Expert:innen auf einige Handlungsprioritäten verständigen: Demokratien müssen die Widerstandsfähigkeit staatlicher Institutionen verbessern. Es braucht mehr länderübergreifende Zusammenarbeit und Erfahrungsaustauch zwischen demokratisch orientierten Oppositionsparteien. Die Demokratie muss mehr Anziehungskraft in der jungen Generation erzeugen. Entscheidend sei laut Zsuzsanna Szelényi zudem: „Wir brauchen neue und vor allem überzeugende Ideen, wie demokratische Gesellschaften den Wandel gestalten wollen.“

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