Eine Frau hält die Publikation "Under Construction" in ihren Händen. Im Hintergrund ist ein kleines Fähnchen der Europäischen Union zu sehen.

Europa fehlt eine funktionierende Infrastruktur für die politische Beteiligung der Bürger:innen

Unsere neue Studie "Under Construction. Citizen Participation in the EU" zeigt, dass die EU über zahlreiche Instrumente der Bürger:innenbeteiligung verfügt. Allerdings sind diese wenig bekannt und erzielen oft nur begrenzte Wirkung. Die einzelnen Instrumente bilden keine sichtbare, umfassende und wirkungsvolle Partizipationsinfrastruktur in Europa. Es bleibt bei einem Flickenteppich der politischen Beteiligung der Bürger:innen in europäischen Entscheidungsprozessen. Daher haben wir fünf Empfehlungen zum Aufbau einer besseren Beteiligungsinfrastruktur erarbeitet. 

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Dr. Dominik Hierlemann
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Dr. Stefan Roch
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Wie für jede Demokratie ist es auch für die Europäische Union (EU) von grundlegender Bedeutung, dass sich Bürger:innen auf unterschiedliche Weise an der politischen Entscheidungsfindung beteiligen können. Allerdings sind die Voraussetzungen dafür auf europäischer Ebene nicht gut, trotz der derzeit zu Ende gehenden Konferenz zur Zukunft Europas. Die Studie "Under Construction. Citizen Participation in the EU" unserer Stiftung und des European Policy Centre zeigt, dass die EU ein Flickenteppich der Bürger:innenbeteiligung ist. Die europäischen Bürger:innen wissen über die Instrumente kaum Bescheid. Nur 15 Prozent finden es einfach, sich an EU-Politik zu beteiligen. Es fehlt an einer umfassenden Partizipationsinfrastruktur. "Um die Bürger:innenbeteiligung zu verbessern, muss die EU eine Beteiligungsinfrastruktur aufbauen. Eine als legitim empfundene EU-Demokratie braucht mehr als nur Wahlen alle fünf Jahre. Wichtig ist eine sichtbarere, effektivere und kontinuierliche Beteiligung der europäischen Bürger:innen an konkreter europäischer Politik", sagt unser Experte für Bürger:innenbeteiligung Dominik Hierlemann.

Drei Lücken der europäischen Bürger:innenbeteiligung

Auf Basis der Analyse von sieben EU-Beteiligungsinstrumenten kommt die Studie zu dem Schluss, dass eine kohärente EU-Beteiligungsinfrastruktur möglich ist. Um dies zu erreichen, gilt es drei Lücken im bestehenden EU-Beteiligungsflickenteppich zu schließen.

1. Die Bewusstseinslücke

Laut einer im Rahmen dieser Studie durchgeführten eupinions-Umfrage, wollen vier von fünf EU-Bürger:innen ein größeres Mitspracherecht in der EU-Politik haben. Aber nur eine Minderheit (46 Prozent) glaubt, dass ihre Stimme in der europäischen Politik zählt. Die wichtigste Ebene der Beteiligung für die Bürger:innen ist weder die europäische noch die nationale, sondern mit Abstand die lokale Ebene. Die Analyse zeigt, dass dies nicht in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass die vorhandenen EU-Beteiligungsinstrumente schwierig zu handhaben sind; sie sind einfach nicht bekannt unter den europäischen Bürger:innen. Ausnahme sind die Wahlen zum Europäischen Parlament.

2. Die Performancelücke

Bei den meisten Instrumenten gibt es erheblichen Raum für Verbesserungen. Sie sind nicht nur unbekannt, sondern ihr politischer Einfluss auf die europäische Politikgestaltung ist relativ gering. Nur ein Viertel der für die Studie befragten europäischen Demokratieexpert:innen sagt, dass die Instrumente adäquat funktionieren. Die Bürger:innen werden oft im Unklaren darüber gelassen, was mit ihren Beiträgen geschieht. Es überrascht daher nicht, dass die Europäer:innen das Gefühl haben, dass sie wenig Einfluss auf die Entscheidungen der EU nehmen können.

3. Die politische Willenslücke

Nicht einmal jeder fünfte (17 Prozent) der für die Studie befragten EU-Demokratieexpert:innen findet, dass die EU erfolgreich darin ist Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene effektiv voranzutreiben. Es besteht eine Kluft zwischen der EU-Rhetorik eines "Europas der Bürger:innen", und der tatsächlichen Praxis von EU-Bürger:innenbeteiligung. Verständnis und Wissen über bestehende Beteiligungsinstrumente sind wenig ausgeprägt – nicht nur unter Bürger:innen, auch unter politischen Insidern. Vorstöße zu mehr Partizipation beschränken sich oft nur auf einen kleinen Kreis von Beteiligungsbegeisterten innerhalb der EU-Institutionen und finden kaum Gehör im politischen Establishment.

Um die Bürger:innenbeteiligung zu verbessern, muss die EU eine Beteiligungsinfrastruktur aufbauen. Eine als legitim empfundene EU-Demokratie braucht mehr als nur Wahlen alle fünf Jahre.

Dominik Hierlemann, Experte für Bürger:innenbeteiligung bei der Bertelsmann Stiftung

Fünf Empfehlungen zum Aufbau einer Beteiligungsinfrastruktur

1. Kultureller Wandel

Bürger:innenbeteiligung muss in Brüssel und den nationalen Hauptstädten von einem "nice to have" zu einem festen Bestandteil der EU-Demokratie werden. Laut eupinions-Umfrage wollen die Bürger:innen mehr an der europäischen Politikgestaltung beteiligt werden (78 Prozent) und die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten auf diesen Wunsch reagieren. Eines der Hauptprobleme ist jedoch die Tatsache, dass ein gemeinsames Verständnis über die Art, die Möglichkeiten und die verschiedenen Formate der Bürger:innenbeteiligung fehlt.

2. Strategie

Die EU-Institutionen müssen mit den Mitgliedstaaten eine gemeinsame Strategie ausarbeiten und vereinbaren. Dies erfordert eine Vision und ein gemeinsames Verständnis von Sinn, Zweck und Nutzen der Beteiligungsinfrastruktur der Europäischen Union. Kriterien für eine gute Beteiligung der Bürger:innen sind: Sichtbarkeit, Zugänglichkeit, Repräsentativität, Transnationalität, Deliberation und Wirkung.

3. Mehr Sichtbarkeit für die EU-Beteiligung

Es bedarf gemeinsamer Kommunikationsanstrengungen, um die Beteiligungsinfrastruktur für die breite Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Bürger:innen aus ganz Europa müssen mehr darüber wissen, wie sie sich in die europäische Politikgestaltung einbringen können. Die Daten der eupinions-Umfrage zeigen deutlich, dass die Bürger:innen derzeit nur eine vage Vorstellung von ihren Beteiligungsrechten haben. Beispiel: Nur etwa 19 Prozent der Befragten in der eupinions-Umfrage konnten die Europäische Bürgerinitiative (EBI) als ein EU-Beteiligungsinstrument identifizieren. 95 Prozent der Demokratieexpert:innen, die wir für diese Studie befragt haben, glauben nicht, dass die aktuellen Beteiligungsinstrumente ausreichend bekannt sind und genutzt werden.

4. Eine zentrale Plattform für EU-Bürgerbeteiligung

Eine EU-Beteiligungsinfrastruktur braucht eine zentrale, benutzerfreundliche und klare Online-Plattform für alle Beteiligungsinstrumente, um Vernetzungsmöglichkeiten, effektive Kommunikation und politische Bildung zu EU-Bürger:innenbeteiligung zu ermöglichen. Laut eupinions-Umfrage findet es die überwältigende Mehrheit der Bürger:innen in Europa (71 Prozent) schwierig, sich auf EU-Ebene zu beteiligen.

5. Digitales Potenzial und neue Beteiligungsformate

Moderne Bürger:innenbeteiligung braucht außerdem stärkere digitale Komponenten. Digitale Mittel können die Sichtbarkeit und Wirksamkeit bestehender Instrumente steigern, indem sie neue Zielgruppen ansprechen. Auch sollten neue Formate öfter angewandt und institutionalisiert werden. Im Kontext der EU-Zukunftskonferenz wurden zum Beispiel in Bürger:innenpanels zufällig ausgewählte Menschen aus ganz Europa beteiligt.

Ohne eine umfassende Reform der Bürger:innenbeteiligung auf europäischer Ebene wird es auch in Zukunft bei einem Flickenteppich der Beteiligung bleiben. Dies könnte dazu führen, dass Bürger:innen immer weniger Interesse an europäischer Politik haben und es zu einer fortschreitenden Kluft zwischen Politik und Bürger:innen kommt. "Wer die liberale Demokratie auf EU-Ebene schützen und stärken will, muss mehr und bessere Beteiligung ermöglichen" sagt Janis A. Emmanouilidis, Stellvertretender Direktor und Studiendirektor, des European Policy Centre, Brüssel.

Publikationen

Cover Under Construction

DOMINIK HIERLEMANN, STEFAN ROCH, PAUL BUTCHER, JANIS A. EMMANOUILIDIS, CORINA STRATULAT, MAARTEN DE GROOT

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