Die Corona-Krise hinterlässt tiefe Spuren in den globalen Warenströmen und Wertschöpfungsketten. Der damit verbundene Rückgang der Globalisierung ist problematisch, denn der internationale Handel und die weltweite Arbeitsteilung haben den Wohlstand in vielen Ländern in den vergangenen knapp 30 Jahren teilweise deutlich erhöht. Das geht aus den Berechnungen der Prognos AG für die neue Ausgabe unseres Globalisierungsreports hervor. Der Report misst anhand eines Globalisierungsindexes den Grad der internationalen Verflechtung von 45 Industrie- und Schwellenländern und berechnet auf dieser Basis die aus der Globalisierung resultierenden direkten Wohlstandsgewinne. Alle untersuchten Länder verzeichneten im Zeitraum zwischen 1990 und 2018 Zuwächse beim realen Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner, die sich auf die Globalisierung zurückführen lassen.
Protektionismus ist die falsche Antwort auf Corona – die Globalisierung erhöht den Wohlstand
Die Globalisierung hat das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in 45 Ländern zwischen 1990 und 2018 steigen lassen. Wie der Globalisierungsreport 2020 zeigt, erzielen Industrienationen die größten Einkommenszuwächse. Im Verhältnis zu ihrem Einkommensniveau zählen aber auch die Schwellenländer zu den Gewinnern. Schätzungen zeigen, dass die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie die Zugewinne der Globalisierung in Deutschland teilweise zunichtemachen können.
Sowohl Industriestaaten als auch Entwicklungs- und Schwellenländer sind dabei Globalisierungsgewinner. Absolut betrachtet haben allerdings vor allem entwickelte Industrienationen von den Globalisierungszuwächsen profitiert. Die größten aus der Globalisierung resultierenden, durchschnittlichen realen Einkommensgewinne je Einwohner und Jahr im Zeitraum von 1990 bis 2018 verzeichneten Japan (rund 1.790 Euro), Irland (rund 1.610 Euro) und die Schweiz (rund 1.580 Euro). Deutschland belegt mit einem durchschnittlichen Plus von 1.110 Euro pro Jahr und Kopf den siebten Platz. Am unteren Ende der Skala finden sich dagegen die großen Schwellenländer wie Brasilien, Russland und China. Die durchschnittlichen, globalisierungsbedingten BIP-Zuwächse liegen hier pro Jahr und Einwohner lediglich zwischen 95 und 136 Euro. Die niedrigen absoluten Gewinne in diesen Ländern resultieren vor allem aus dem geringen Ausgangsniveau des BIP pro Kopf zum Startpunkt der Messung 1990. Deshalb schneiden Industrieländer, die schon damals ein hohes Pro-Kopf-Einkommen aufwiesen, bei den absoluten Zuwächsen besser ab.
Schwellenländer holen auf
Relativ betrachtet holen viele Schwellenländer und junge Marktwirtschaften allerdings stark auf. Die Dynamik spiegelt sich in den zwischen 1990 und 2018 insgesamt erzielten globalisierungsbedingten Einkommensgewinnen in Bezug auf das reale Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner des Jahres 1990. Diese Einkommensgewinne entsprechen in China 618 Prozent – das heißt, das Einkommen pro Kopf ist alleine durch die Globalisierung in den vergangenen drei Jahrzehnten um mehr als das Sechsfache gestiegen. Auf den nächsten Plätzen folgen Südkorea (373 Prozent), Polen (366 Prozent), Ungarn (352 Prozent) und Chile (339 Prozent). Zum Vergleich: Deutschland belegt hier mit einem Zugewinn von 142 Prozent nur den 23. Platz.
Soziale Nachhaltigkeit in stärker globalisierten Ländern gestiegen
Die Globalisierung darf jedoch nicht nur anhand ihrer monetären Gewinne bewertet werden, sondern auch mit Blick auf ihre Folgen für den gesellschaftlichen Fortschritt. Um einen Zusammenhang zwischen Globalisierung und Nachhaltigkeit zu messen, haben die Autoren des Reports daher einen Index mit einer Skala von 0 bis 100 entwickelt, der sich an ausgewählten Nachhaltigkeitsindikatoren der "Sustainable Development Goals" der Vereinten Nationen orientiert. Den Berechnungen zufolge ist die soziale Nachhaltigkeit in allen betrachteten Ländern im Untersuchungszeitraum gestiegen: von einem durchschnittlichen Indexwert von 62 im Jahr 1990 auf 81,5 im Jahr 2018 – ein Plus von 19,5 Punkten.
Zugleich zeigt sich, dass stärker globalisierte Volkswirtschaften wie die Niederlande, Belgien und Irland einen höheren Wert für die soziale Nachhaltigkeit aufweisen als weniger globalisierte Volkswirtschaften. Die aus der Globalisierung resultierenden Zuwächse beim BIP geben Staaten zusätzlichen Spielraum, um die Lebensbedingungen ihrer Bürger:innen zu verbessern. "Stärker globalisierte Staaten können die Gewinne der Globalisierung zum Beispiel für Fortschritte in der Gesundheitsversorgung oder Bildung nutzen", erläutert Thomas Rausch, unser Experte für internationale Beziehungen. Daher sei es umso wichtiger, dass Länder, die bisher weniger an der Globalisierung teilhaben, stärker von ihr profitieren.
"Die aktuellen Abschottungstendenzen sehen wir mit großer Sorge"
Wie die Berechnungen zeigen, profitiert die Weltwirtschaft deutlich von der Globalisierung. "Die Antwort auf die wirtschaftlichen Verwerfungen der Corona-Krise darf daher keinesfalls Protektionismus sein", sagt Thomas Rausch. Schon jetzt sei jedoch zu beobachten, dass einzelne Staaten weitere Handelshemmnisse einführen und Umweltstandards abbauen. Rausch weiter: "Die aktuellen Abschottungstendenzen sehen wir mit großer Sorge. Denn der Versuch, die Globalisierung zurückzudrehen, würde mit Wohlstandsverlusten für alle Länder einhergehen."
Es ist noch zu früh, die Auswirkungen des globalen Wirtschaftseinbruchs durch die Corona-Pandemie detailliert zu berechnen, da für das Jahr 2020 kaum belastbare Daten verfügbar sind. Um dennoch einen Anhaltspunkt zu liefern, haben die Autoren der Studie am Beispiel von Deutschland zunächst geprüft, welche Indikatoren im Globalisierungsindex von der Pandemie betroffen sind – zum Beispiel durch unterbrochene Lieferketten oder einen Rückgang des Tourismus. Im nächsten Schritt wurde auf Basis verschiedener Prognosen von renommierten Institutionen wie der OECD geschätzt, wie stark diese Indikatoren im Wert zurückgehen werden. Auf Grundlage des angepassten Globalisierungsindexwertes für Deutschland für 2018 (dem letzten Erhebungsjahr des Globalisierungsreports) wurden die globalisierungsbedingten Einkommenszuwächse für Deutschland neu berechnet. Den Schätzungen zufolge würden sich – auf Basis des Jahres 2018 – die globalisierungsbedingten Einkommensgewinne je Bundesbürger durch die Pandemie um 100 bis 500 Euro für ein Jahr verringern.
In der Frage nach der angemessenen Reaktion auf die Pandemie hält es Thomas Rausch in der gegenwärtigen Krise zwar für angebracht, Lieferketten zu überprüfen und Abhängigkeiten in sensiblen Industriebereichen zu reduzieren. Die Globalisierung eröffne jedoch auch viele Wege, um eine Krise besser zu meistern – zum Beispiel, indem sie Unternehmen die Möglichkeit bietet, auf inländische Angebots- oder Nachfrageeinbrüche zu reagieren. "Auch in der Corona-bedingten Rezession sollten die Entscheider in Wirtschaft und Politik darauf hinwirken, die Rahmenbedingungen und Standards der Globalisierung weiter zu verbessern. Zum Beispiel, indem sie sich für eine faire Reform der Welthandelsordnung einsetzen. Denn nur eine gleichberechtigte Teilhabe aller Länder am freien Handel kann für breiten Wohlstand sorgen", betont Rausch.
Zusatzinformationen
Der Globalisierungsreport 2020 analysiert die Wachstumseffekte der Globalisierung anhand des Bruttoinlandproduktes pro Kopf für den Zeitraum 1990 bis 2018. Der Report wurde von der Prognos AG in unserem erstellt. Mithilfe eines sogenannten Globalisierungsindex, der sich eng an den KOF-Globalisierungsindex der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich anlehnt, wird die Entwicklung der Globalisierung für 45 Industrie- und Schwellenländer gemessen. Der Index enthält neben Indikatoren zur wirtschaftlichen Globalisierung auch Aspekte sozialer Globalisierung (Tourismus, Migration) und politischer Globalisierung (institutionalisierte Verflechtung, Außenbeziehungen, etc.). Aus den Daten lässt sich für jedes Land und jedes Jahr ein Indexwert bilden, der im Bereich zwischen 0 und 100 liegt. Dabei gilt: Je höher der Indexwert ausfällt, desto größer ist die Verflechtung dieses Landes mit anderen Staaten. Steigt der Wert des Globalisierungsindex um einen Punkt, nimmt die Wachstumsrate des realen BIP je Einwohner um rund 0,3 Prozentpunkte zu.