Ein älterer Mann sitzt an einem Holztisch, auf dem er sein Münzgeld zählt.

Steigende Altersarmut: Nachbesserungen bei Reformen des Rentensystems nötig

Die Angleichung von Renten in Ost und West, eine Untergrenze für das Rentenniveau oder die sogenannte Mütterrente – an Reformen für den Ruhestand hat es in den vergangenen Jahren nicht gemangelt. Trotzdem steigt das Risiko der Altersarmut weiter. Wer davon am meisten betroffen ist und wie sich aktuell diskutierte Reformmodelle wie die Grundrente auf die Altersarmut auswirken könnten, zeigt eine neue Studie von uns und dem DIW Berlin.

Selbst bei ungemindert positiven Konjunkturaussichten könnte das Armutsrisiko im Alter weiter steigen, sodass in zwanzig Jahren mehr als jeder fünfte Rentner (21,6 Prozent) in Deutschland von Altersarmut betroffen sein könnte. Zu den größten Risikogruppen gehören unter anderem Alleinstehende und Geringqualifizierte. Mit Blick auf die aktuell diskutierten Konzepte einer Grundrente zeigt sich, dass sowohl die Pläne aus dem Koalitionsvertrag, wie auch das Modell von Arbeitsminister Heil in puncto Altersarmut noch nicht ausreichend zielgenau sind. Das sind die Ergebnisse einer Untersuchung, die auf Grundlage repräsentativer Haushaltsdaten die Entwicklung der Altersarmut sowie die Wirkung aktueller Reformmodelle untersucht hat. Die Berechnungen hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) in unserem Auftrag durchgeführt.

Selbst bei einer positiven Arbeitsmarktentwicklung müssen wir mit einem deutlichen Anstieg der Altersarmut in den kommenden zwanzig Jahren rechnen.

Christof Schiller, Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann Stiftung

"Neben beschäftigungspolitischen Maßnahmen, um Risikogruppen noch besser in Arbeit zu bringen, sind auch zielgenaue Reformen des Rentensystems notwendig, um den Anstieg der Altersarmut zu bremsen", so Schiller weiter.

Altersarmut: Alleinstehende und Geringqualifizierte am stärksten betroffen

Unter der Annahme einer andauernden positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt und einer leicht steigenden Erwerbsquote ermitteln die Studienautoren ein wachsendes Armutsrisiko und eine höhere Grundsicherungsquote bis 2039. So würde die Grundsicherungsquote, die den Anteil der Rentner angibt, die zusätzlich auf staatliche Unterstützung zur Existenzsicherung angewiesen sind, in den kommenden zwanzig Jahren von aktuell neun Prozent (2019) auf knapp 12 Prozent steigen. Hier ist zu beachten, dass in der Studie eine vollständige Inanspruchnahme der Grundsicherung unterstellt wird. Die Werte berücksichtigen somit auch die "verdeckte" Altersarmut. Laut Studie liegt die Grundsicherungsschwelle für einen Ein-Personen-Haushalt bei etwa 777 Euro. Ebenfalls berücksichtigt ist hier, ob der Haushalt über anrechenbares Vermögen verfügt. 

Auch die Armutsgefährdung im Alter würde im selben Zeitraum von aktuell 16,8 auf 21,6 Prozent klettern. Als armutsgefährdet gelten laut Studie Personen, deren monatliches Nettoeinkommen unter Berücksichtigung des Haushaltszusammenhangs unter 905 Euro liegt. 

Zu den größten Risikogruppen gehören vor allem Geringqualifizierte oder Alleinstehende. Bei ihnen ist das Grundsicherungsrisiko im Alter nahezu doppelt so hoch wie im Durchschnitt. So steigt die Grundsicherungsquote bei Personen ohne Berufsschulabschluss zwischen 2019 und 2039 von rund 16 auf 21 Prozent. Bei alleinstehenden Frauen klettert die Quote im selben Zeitraum von zwölf auf fast 20 Prozent. Einen besonders starken Anstieg müssen zukünftig ostdeutsche Rentner verkraften. Liegt die Grundsicherungsquote in Ostdeutschland aktuell mit 6,5 Prozent noch deutlich unter dem Niveau in Westdeutschland (rund zehn Prozent), verdoppelt sie sich in den kommenden zwanzig Jahren auf knapp zwölf Prozent. 

Einen besonders starken Anstieg der Grundsicherungsquote müssen zukünftig ostdeutsche Rentner verkraften.

Aktuelle Reformkonzepte zur Grundrente nicht zielgenau

Sowohl das bisher im Koalitionsvertrag beschriebene Modell einer Grundrente mit, als auch die Variante von Arbeitsminister Heil ohne grundsätzliche Bedürftigkeitsprüfung sind laut Studie noch nicht hinreichend zielgenau. Die Variante der Grundrente aus dem Koalitionsvertrag, die für Grundsicherungsempfänger mit 35 Versicherungsjahren eine Erhöhung des Grundsicherungsbedarfs um zehn Prozent vorsieht, kann den Anstieg der Altersarmut kaum bremsen. Laut Studie würde die Reform das Armutsrisiko bis 2039 nur um 0,4 Prozentpunkte auf dann 21,2 Prozent reduzieren. "Der Hauptgrund für diesen geringen Effekt liegt darin, dass weniger als ein Drittel der Personen mit Grundsicherungsanspruch auf die geforderten 35 Versicherungsjahre kommen", so Studienautor Johannes Geyer vom DIW Berlin.

Das Reformkonzept von Arbeitsminister Heil kann hinsichtlich einer Reduzierung der Altersarmut durchaus mehr Wirkung entfalten. So ließe sich mit dem "Heil'schen Modell" die Armutsrisikoquote bis 2039 auf 18,4 Prozent reduzieren.  Gleichzeitig ist diese Reform aber wenig zielgenau, da hier viele Personen profitieren, deren Nettoeinkommen deutlich oberhalb der Grundsicherungsschwelle liegt. 85 Prozent der 3,1 Mio. berechtigten Personen hätten laut Studie aufgrund anderer Einkünfte im Haushalt eigentlich keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter. Das mittlere individuelle Nettoeinkommen der Begünstigten liegt sogar doppelt so hoch wie die Bedürftigkeitsschwelle. 

Unterschiede der beiden Modelle zeigen sich auch mit Blick auf die Kosten: Im Heil'schen Konzept würden die Mehrkosten laut Studie im Ausgangsjahr aufgrund des großen Kreises der Begünstigten mit rund sieben Milliarden zu Buche schlagen, beim Koalitionsmodell kämen dagegen nur rund eine Milliarde Mehrkosten auf die öffentlichen Kassen zu. 

Rentenreformen müssen Ursachen der Altersarmut genauer ins Visier nehmen

Um die Zielgenauigkeit zu stärken, könnte laut Schiller die Heil'sche Reform um eine einfache Einkommensprüfung (ohne Vermögensprüfung) und eine etwas flexiblere Auslegung der Versicherungszeiten ergänzt werden. Durch die Einkommensprüfung könnte so sichergestellt werden, dass tatsächlich nur einkommensschwache Haushalte in den Genuss der Aufwertung der Rentenanwartschaften kommen. Eine flexiblere Auslegung der anerkannten Versicherungszeiten käme dem wachsenden Anteil von Menschen zugute, die im Lebensverlauf längere versicherungsfreie Zeiten oder Zeiten der Erwerbslosigkeit aufweisen. 

In beiden Fällen ließen sich auch die Kosten der Heil'schen Reform senken. Dies ist vor allem im Hinblick auf die demografische Entwicklung entscheidend, denn mit dem Renteneintritt der sogenannten "Baby-Boomer" werden die öffentlichen Kassen in Deutschland in den nächsten 20 Jahren auf eine große Belastungsprobe gestellt.