Prof. Christoph Möllers, Prof. Donatella della Porta, Elke Büdenbender, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Liz Mohn und David Van Reybrouck (v.l.n.r.) beim Forum Bellevue "Gesellschaft ohne Politik? Liberale Demokratien in der Bewährungsprobe" in Berlin am 23. Mai 2018

"Demokratie ist nicht, Demokratie wird ständig."

Warum ist das Politische so in Verruf geraten – und können die Menschen wieder für aktives, politisches Engagement begeistert werden? Über diese Fragen diskutierte Bundespräsident Steinmeier auf dem vierten "Forum Bellevue" mit Wissenschaftlern und Aktivisten.

Foto Jörg Habich
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Foto Barbara von Würzen
Barbara von Würzen

"Es ist etwas ins Rutschen geraten", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schon in seiner Eröffnungsrede und setzte damit einen wichtigen Akzent für die Diskussion. Für das vierte "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" hatte der Bundespräsident nicht nur ein grundlegendes Thema, sondern auch ein besonderes Datum gewählt: Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Auf den Tag 69 Jahre später diskutierte der Bundespräsident mit der italienischen Politikwissenschaftlerin Donatella della Porta, dem belgischen Historiker und Gründer der Bürgerrechtsplattform "G1000" David van Reybrouck und dem deutschen Rechtswissenschaftler Christoph Möllers über die Frage, wie es zur Krise der Demokratie gekommen ist und welche Rezepte die Gesellschaft dagegen finden könne.

Am Tag des Grundgesetzes definierte der Bundespräsident die Rolle der Verfassung: Auch, wenn die verfassungsmäßige Ordnung Grundlage für eine funktionierende Demokratie sei, so lebe das demokratische Gemeinwesen hauptsächlich von Demokratinnen und Demokraten, so Steinmeier. Es brauche Menschen, die bereit seien, sich zu engagieren, die den Anderen als Gleichen respektieren und das eigene Interesse nicht absolut setzen. Das setze laut Steinmeier auch "ein Interesse am Gemeinwesen und den Mut zum Kompromiss voraus." Er betonte: "Demokratie ist nicht, Demokratie wird ständig."

Können Losverfahren die Demokratie retten?

Genau an dieser Fähigkeit zu Kompromissen mangele es momentan jedoch gewaltig, sagte der Historiker van Reybrouck, der sich in seinen Schriften unter anderem für eine stärkere Bürgerbeteiligung einsetzt. "Eine Regierung zu gründen, ist heutzutage so schwierig wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr", analysierte er. Die Regierungsbildung werde mittlerweile durch das Gewicht und die Angst der Politiker vor den folgenden Wahlen nahezu erdrückt, so Reybrouck. Das führe dazu, dass viele Politiker unfähig zum Kompromiss geworden seien. Eine Lösung – sowohl für die Kompromissfindung, als auch um die wachsende Distanz zwischen Regierungen und Regierten zu überbrücken – sieht er in der Stärkung von Bürgerdialogen und neuen Beteiligungsformaten. Er verwies dafür auf erfolgreiche Modellprojekte in Danzig, Madrid oder Toronto, aber auch auf einen Volksentscheid zu einem Entwurf für ein neues Abtreibungsgesetz in Irland: "Politiker haben sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht getraut, dieses hochmoralische und emotional aufgeladene Thema zu einer Entscheidung zu führen", so Reybrouck. Doch mithilfe von per Los ausgewählten Bürgern, die zum Thema mit Experten mehrere Monate beraten und getagt haben, wurde nun ein Entwurf zur Volksabstimmung vorgelegt. Ein Prozess, der laut Reybrouck unter üblichen parlamentarischen Bedingungen so wahrscheinlich nicht zum Erfolg geführt hätte. Denn in den Parlamenten vermisse er die "Geräusche der Demokratie": das Diskutieren und Debattieren.

Dass ein erhöhter Geräuschpegel nicht automatisch zu mehr Demokratie führe, warf darauf Steinmeier ein und verwies dann auf die Zunahme an Konflikten und auch die emotionale Intensität, mit der Debatten gerade in digitalen Räumen eher ausgekämpft statt geführt würden. Damit einher gehe auch die zunehmende Erwartungshaltung nach vermeintlich klaren, einfachen Antworten, so Steinmeier. "Überall dort, wo ein 'ja' oder 'nein' zur Auswahl steht, steigt auch die Diskussionsfreude." Aber überall dort, wo demokratische Basisarbeit gefragt sei, in den Kommunen und Gemeinden, dort vermisse er Engagement der Menschen.

Ob die klassischen, gewohnten parlamentarischen Entscheidungswege und alteingesessene Parteien der Grund für das sinkende politische Engagement sind, darüber wurde auf dem Podium kontrovers diskutiert. Einig waren sich die Diskutierenden jedoch über den Befund, dass demokratische Institutionen einen Anpassungsprozess durchlaufen müssen, um die Distanz zwischen Volk und Parteien zu verringern. Möllers sprach in diesem Zusammenhang von einer gefährlichen "wohlwollenden Gleichgültigkeit":

"Wenn sich zu viele Menschen auf das politische System verlassen, ohne es zu unterstützen – weil es immer funktioniert hat – dann ist das einerseits ein Erfolg des bisherigen politischen Systems, aber auch gefährlich für unsere demokratische Zukunft".

Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Humboldt-Universität Berlin

Wir befänden uns momentan in einem Modus-Wechsel: Weg von klassischen, überorganisierten Parteistrukturen und hin zu politischen Bewegungen, die gerade für jüngere Menschen zeitgemäßer erscheinen.

Die Entstehung solcher neuen politischen Bewegungen bewertete della Porte zunächst grundsätzlich positiv. Diese Zersplitterung der Parteienlandschaft sei auch eine Folge der vielen gesellschaftlichen Konflikte, die uns umgeben. "Neue politische Bewegungen können zunächst auch wichtige Impulse und Anregungen für bestehende Parteien geben", so della Porta. Dazu gehört auch, dass der Begriff des "Politischen" heutzutage deutlich weiter gefasst werde. Denn Politik bedeute mehr als nur Parlamentsdebatten und Wählengehen.

Verunsicherung in Zeiten des Wohlstandes: Warum nehmen Ängste zu?

Wie sich das Paradox erklären lasse, dass viele der neuen Protestbewegungen gerade in einer Zeit entstehen, in der die Wohlstandskurve, zumindest in Deutschland, sehr deutlich nach oben zeige, wollte der Bundespräsident am Ende der Diskussion von seinen Gästen erfahren. Möllers betonte die Bedeutung eines neuen demokratischen Versprechens und Projektes. "Demokratie muss immer nach vorn gehen. Wenn ein solches, zukunftsweisendes Angebot nicht zur Verfügung steht", könnten sich die Bürger abwenden. Van Reybrouck sprach vom "permanenten Zwang zu Erneuerung". Viele Bereiche der modernen Gesellschaft hätten sich demokratisiert: die Bildung, die Kommunikation, die Verbreitung von Informationen überhaupt. Insofern müsse sich auch die Demokratie selbst demokratisieren und die Bürger stärker einbeziehen. Diese Notwendigkeit zum permanenten Innovationsprozess habe auch schon der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa, erkannt, der in seinem weltbekannten Roman "Der Leopard" sinngemäß notierte: "Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich ändert."