Viele Familien ärmer als bislang gedacht
Familien mit geringem Einkommen sind in den letzten 25 Jahren weiter abgehängt worden. Mit einer neuen Methodik haben Forscher in unserem Auftrag festgestellt, dass vor allem arme Familien bisher reicher gerechnet wurden als sie tatsächlich sind. Jetzt ist die Politik gefragt, ein größeres Gewicht auf die Bekämpfung von Armut zu legen.
Die Einkommenssituation von vielen Familien und insbesondere Alleinerziehenden ist schlechter als bislang gedacht. In einer Studie in unserem Auftrag haben Forscher der Ruhr-Universität Bochum jetzt erstmals für Deutschland ermittelt, welche zusätzlichen Kosten durch Kinder je nach Familientyp und Einkommensniveau entstehen. Dabei wird klar: Je geringer das Familieneinkommen ist, desto schwerer wiegt die finanzielle Belastung durch jedes weitere Haushaltsmitglied.
Um die Einkommenssituation von verschiedenen Familientypen vergleichen und die zusätzlichen Ausgaben für Kinder schätzen zu können, wurden bisher die starren Äquivalenzgewichte der OECD-Skala genutzt. Bezugsgröße dabei sind die Ausgaben für einen alleinlebenden Erwachsenen. Ein zusätzliches Kind unter 14 Jahren erhält ein Gewicht von 0,3, eine zusätzliche Person über 14 Jahren von 0,5.
Die jetzt vorliegenden Ergebnisse machen jedoch deutlich, dass solche starren Skalen nicht angemessen sind. Die Forscher berechneten deswegen in der Studie einkommensabhängige Äquivalenzgewichte, die einen realistischeren Blick auf die Einkommenssituation von Familien ermöglichen. Sie zeigen, dass die OECD-Skala die Einkommen armer Haushalte systematisch über- und jene reicher Haushalte unterschätzt. Denn für ärmere Familien ist die finanzielle Belastung durch Kinder im Verhältnis größer als für wohlhabende Familien. Für unseren Vorstand Jörg Dräger ist deshalb klar:
Kinderlose sind im Durchschnitt besser gestellt als Familien
Die Untersuchung zeigt ebenfalls, dass von 1992 bis 2015 Paare mit Kindern oder Alleinerziehende im Durchschnitt finanziell stets schlechter gestellt waren als kinderlose Paare. "Mit jedem zusätzlichen Kind wird die finanzielle Lage von Familien schwieriger. Kinder sind leider ein Armutsrisiko in Deutschland", so Dräger.
Zudem ist die Einkommensschere zwischen wohlhabenden und armen Familien in diesem Zeitraum weiter aufgegangen. Seit den 1990er Jahren ist es nur jenen Familien gelungen, ihr Einkommen zu halten oder zu verbessern, bei denen die Mütter ihre Erwerbstätigkeit ausbauen konnten.
Entscheidend hierfür war der Ausbau der Kindertagesbetreuung. Kindergelderhöhungen hingegen haben die Einkommenssituation von Familien mit Kindern nicht nachhaltig verbessert. Diese Ergebnisse bestätigen frühere Untersuchungen, allerdings sind die Effekte – gemessen mit der neuen Methode – stärker als bislang gedacht. Darüber hinaus ergeben sich im Detail erhebliche Unterschiede.
Familien stärker von Armut betroffen als gedacht
So zeigt sich, dass die Armutsrisikoquote von Paarfamilien nach der neuen Berechnung knapp drei Prozentpunkte über den bisher ermittelten Werten liegt: nach neuer Berechnung sind 13 Prozent der Paare mit einem Kind armutsgefährdet, 16 Prozent jener mit zwei und 18 Prozent solcher mit drei Kindern.
Besonders drastisch ist die Situation für Alleinerziehende. Lag deren Armutsrisikoquote nach früheren Berechnungen bei 46 Prozent – und damit schon sehr hoch –, sind es auf Basis der neuen Methode 68 Prozent. Gerade bei Alleinerziehenden führt die Anwendung der starren, einkommensunabhängigen OECD-Skala dazu, dass die zusätzlichen Ausgaben für ein Kind im Haushalt deutlich unterschätzt werden. Während beispielsweise ein Haushalt mit zwei Erwachsenen mit einem Schlaf- und einem Wohnzimmer auskommen kann, brauchen Alleinerziehende zusätzlich ein Kinderzimmer.
Zudem fallen bei niedrigeren Einkommen die speziellen Ausgaben, die für Kinder erforderlich sind – etwa für Windeln, Schulsachen oder neue und passende Kleidung –, besonders ins Gewicht. Gleichzeitig ist es für Alleinerziehende aufgrund der aufwändigeren Betreuung und Fürsorge für die Kinder besonders schwer, ihre Erwerbstätigkeit auszubauen. Vergleichbar ist die Situation für kinderreiche Familien. Dräger fasst zusammen: "Von Armut sind vor allem die Familien betroffen, die ihre Erwerbstätigkeit aufgrund besonders großer Betreuungsverantwortung nicht steigern konnten."
Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt der Familienpolitik stellen
Die Politik sollte deshalb ein größeres Gewicht auf die Bekämpfung von Armut legen. "Vor allem Alleinerziehende brauchen stärkere Unterstützung", so Dräger. Zudem gilt es, die staatliche Existenzsicherung für Kinder neu aufzustellen. Dabei, so Dräger, sollte sich der Staat konsequent an den Bedürfnissen von Kindern orientieren. "Mit einem Teilhabegeld als neue familienpolitische Maßnahme können wir das Kindergeld, die SGB II-Regelsätze für Kinder und Jugendliche, den Kinderzuschlag und den größten Teil des Bildungs- und Teilhabepakets bündeln." Dieses neue Instrument soll gezielt arme Kinder und Jugendliche erreichen und mit steigendem Einkommen der Eltern abgeschmolzen werden.
Darüber hinaus brauchen Kinder und Eltern in ihrer Umgebung gute Bildungs- und Freizeitangebote sowie eine passgenaue, unbürokratische Unterstützung. Zudem sollte die Bundesregierung die neuen methodischen Erkenntnisse dieser Studie in ihrer Armuts- und Sozialberichterstattung berücksichtigen, damit die bisherigen Verzerrungen aufgrund der OECD-Skala zukünftig nicht weiter auftreten. "Ansonsten", so Dräger, "verlieren wir genau die aus dem Blick, die am meisten auf Unterstützung angewiesen sind."
Unser Projekt "Familie und Bildung – Politik vom Kind aus denken" hat gemeinsam mit einem wissenschaftlichen Expertenbeirat ein Konzept entwickelt, wie eine neue Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche aussehen könnte, die ihnen Teilhabe an unserer Gesellschaft gewährleistet.