Vor dem Reichstagsgebäude in Berlin steht ein Schild, das die Richtung zu einem Wahllokal weist.

Bundestagswahl 2017: Wahlergebnis zeigt neue Konfliktlinie der Demokratie

Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten hat sich bei einer Bundestagswahl die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung spürbar verringert. Gleichzeitig zeigt das Wahlergebnis jedoch eine neue Konfliktlinie auf: zwischen Modernisierungsskeptikern und -befürwortern. Diese Spaltung könnte auch in Zukunft die politischen Auseinandersetzungen und Wahlergebnisse prägen.

Die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung ist bei der Bundestagswahl 2017 zum ersten Mal seit 1998 wieder spürbar gesunken. Dies ist vor allem einem "AfD-Effekt" zuzuschreiben: In den sozial prekären Stimmbezirken, die üblicherweise die niedrigsten Wahlbeteiligungen verzeichnen, konnte die AfD viele Wähler für sich mobilisieren. Infolge dessen stieg die Wahlbeteiligung dort überdurchschnittlich an. Gleichzeitig zeigt sich eine neue Konfliktlinie der Demokratie, die quer durch die Wählerschaft zwischen Modernisierungsskeptikern und -befürwortern verläuft. Zudem verlieren die etablierten Parteien im Milieu der bürgerlichen Mitte Wähler und erreichen im sozial prekären Milieu kaum noch Menschen. Das sind die Ergebnisse unserer  Studie, die erstmals das Wahlverhalten der sozialen Milieus bei einer Bundestagswahl analysiert hat.

Die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung beschreibt, wie stark die Wahlbeteiligung vom sozialen Profil eines Stimmbezirks abhängt. Ist die Wahlbeteiligung in wirtschaftlich und sozial starken Wohnvierteln sehr hoch und gleichzeitig in wirtschaftlich schwachen Vierteln sehr niedrig, ist dies Ausdruck einer hohen sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung. Diese Spaltung hat sich 2017 gegenüber der vergangenen Bundestagswahl auf 26,7 Prozentpunkte verringert (2013: 29,5 Prozentpunkte). "Eine derartige Verringerung der sozialen Spaltung haben wir zuletzt 1998 beim Wahlsieg der SPD beobachtet. 2017 ist es vor allem der AfD gelungen, Nichtwähler und Wähler aus sozial prekären Stimmbezirken in großem Stil zu mobilisieren", erläutert unser Demokratieexperte und Autor der Studie Robert Vehrkamp.

Kampf um die bürgerliche Mitte

Im Kampf um die bürgerliche Mitte macht die AfD vor allem der CDU/CSU Konkurrenz. In diesem Milieu erreichte die AfD ein Wahlergebnis von 20 Prozent, ein Zuwachs gegenüber 2013 um knapp 15 Prozentpunkte. In gleichem Umfang hat die CDU/CSU hier an Stimmen verloren und somit den höchsten Verlust aller Parteien in einem Einzelmilieu erlitten. Insgesamt haben in der bürgerlichen Mitte etwa 40 Prozent aller Wahlberechtigten entweder gar nicht oder die AfD gewählt.

Das wirkt sich auch auf die rechnerischen Koalitionsmehrheiten aus: Eine Große Koalition würde nur noch etwa 42 und eine Jamaika-Koalition nur noch 39 Prozent aller Wahlberechtigten aus der bürgerlichen Mitte repräsentieren.

Die etablierten Parteien verlieren in der bürgerlichen Mitte deutlich an Terrain. Der Kampf um die Mitte hat sich massiv verschärft.

Robert Vehrkamp, Demokratieexperte der Bertelsmann Stiftung

Im sogenannten Milieu der Prekären, einem Milieu der sozialen Unterschicht, verlieren die etablierten Parteien inzwischen rasant an Rückhalt. In diesem Milieu lag die geschätzte Wahlbeteiligung bei nur etwa 58 Prozent und damit fast 20 Prozentpunkte unter der Gesamtwahlbeteiligung. Gleichzeitig kam die AfD im prekären Milieu mit 28 Prozent auf ihr stärkstes Ergebnis. Damit haben in diesem Milieu gut 63 Prozent aller Wahlberechtigten entweder gar nicht, eine sonstige Partei oder die AfD gewählt. "In keinem anderen Milieu ist der Erosionsprozess der etablierten Parteien und die Dominanz der Nicht- und Protestwähler so weit fortgeschritten wie im prekären Milieu", kommentiert unsere Demokratieexpertin und Mitautorin der Studie Klaudia Wegschaider.

Neue Konfliktlinie der Demokratie

Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse: Die Spaltung der Wählerschaft verläuft mittlerweile zwischen den Skeptikern und Befürwortern der sozialen und kulturellen Modernisierung und hat auch das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl entscheidend geprägt. In modernisierungsskeptischen Milieus identifizieren sich die Menschen mit Begriffen wie "Tradition" oder "Besitzstandswahrung". Für modernisierungsoffene Milieus sind dagegen "Grenzüberwindungen" und "Beschleunigung" prägende Begriffe. Knapp zwei Drittel aller AfD-Wähler kommen aus Milieus, die eher modernisierungsskeptisch sind. Damit hat die AfD im Parteienspektrum ein Alleinstellungsmerkmal. Denn die Wähler aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien gehören mehrheitlich einem der Milieus der Modernisierungsbefürworter an. Am knappsten fällt diese Mehrheit mit 52 Prozent bei den Unions-Wählern aus, am deutlichsten bei den Wählern der Grünen (72 Prozent).

Nach diesen Ergebnissen würden bei einer Großen Koalition 53 Prozent ihrer Wähler aus den Milieus der Modernisierungsbefürworter stammen, und 47 Prozent aus den Milieus der Modernisierungsskeptiker. Bei einer Jamaika-Koalition würde dieses Verhältnis mit 57 zu 43 Prozent deutlicher zugunsten der modernisierungsfreundlichen Milieus ausfallen. Ob und wie sehr daraus ein Konflikt der AfD gegen das etablierte Parteiensystem entstehe, sei noch völlig offen. Viele der anstehenden politischen Kontroversen könnten allerdings entlang dieser Konfliktlinie verlaufen und ausgetragen werden, so Vehrkamp.

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