Blick von den Treppen, die hinauf zum Kapitolshügel in Rom führen, auf den Senatorenpalast. Links und rechts säumen zwei große Statuen mit Pferden den Weg. Auf der Treppe laufen Menschen.

60 Jahre Römische Verträge: Wohin steuert die EU?

Am Samstag jährt sich der Abschluss der "Römischen Verträge" zum 60. Mal. Das Vertragswerk gilt als die eigentliche Geburtsstunde der heutigen EU. Zu diesem Anlass blicken wir auf aktuelle Entwicklungen in der europäischen Staatengemeinschaft und haben Stimmen aus den sechs Unterzeichnerstaaten gesammelt.

Am 25. März 1957 geschieht auf dem Kapitolshügel in Rom Historisches: Spitzenpolitiker aus Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg unterzeichnen im Senatorenpalast die "Römischen Verträge". Sie ebneten damit einer engen wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit ihrer Länder den Weg und legten einen zentralen Grundstein für die heutige EU. Noch wenige Jahre zuvor hatte Hitler-Deutschland die anderen Staaten besetzt, verwüstet und ausgeplündert.

Die Europäische Union ist eine historische Errungenschaft. Doch heute stellt sich die Frage: Weiter so oder Neuanfang - wohin steuert Europa? Vor kurzem musste der europäische Kontinent eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise aushalten, deren Folgen vielerorts noch immer deutlich spürbar sind. Dann begannen an seinen südlichen und östlichen Rändern die "Arabellion", die mittlerweile vielfach blutig niedergeschlagen wurde, und der Krieg in der Ukraine. Es folgte fast der "Grexit", in den letzten Monaten kamen Hunderttausende Flüchtlinge und im Sommer 2016 votierte eine knappe Mehrheit der Briten für den "Brexit". Nun fordern der neue US-Präsident, erstarkende nationalistische Bewegungen und eine Türkei, die auf dem Weg zur Präsidialdiktatur ist, Europa heraus.

Wir blicken auf Themen, die die Europäer gerade im Superwahljahr 2017 umtreiben: Wie geht's weiter mit EU und Euro und welche Rolle spielen Globalisierungsängste bei den aktuellen Erfolgen rechter Parteien? Wie steht's um die soziale Lage in Europa und warum fühlen sich viele Europäer als soziale Verlierer? TTIP, Russland, China und Co.: Wie und mit wem sollte Europa künftig zusammenarbeiten? Und: Werden Flüchtlinge auf unserem Kontinent eine neue Heimat finden?

Anlässlich von 60 Jahren Römische Verträge haben wir außerdem sechs Experten aus den Unterzeichnerstaaten nach den größten Leistungen und entscheidenden Herausforderungen der Europäischen Union gefragt.

"Zum ersten Mal erleben wir in Europa einen Frieden, den man 'organisiert' nennen kann." Anne-Marie Le Gloannec (Frankreich)

Die Französin Anne-Marie Le Gloannec ist Senior Research Fellow an der Sciences Po in Paris.

Frau Le Gloannec, was ist in Ihren Augen die herausragende Leistung der europäischen Integration?

Zum ersten Mal erleben wir in Europa einen Frieden, den man "organisiert" nennen kann. Europa lebte stets in der Spannung zwischen Fragmentierung und Einheit. Fragmentierung war dabei nicht immer ein Nachteil, sondern ebenso ein Vorteil, erlaubt er doch Wettbewerb und Vielfalt.

Doch nach zwei Selbstmordversuchen, also den beiden Weltkriegen des 20.Jahrhunderts, war das oberste Ziel Europas die Schaffung des Friedens, der auf den ganzen Kontinent ausgedehnt werden sollte. Und das trotz des 'Kalten Krieges', trotz der Katastrophe auf dem Balkan oder des Bürgerkriegs in Nordirland.

In diesem Prozess gelang es Europa, aus den Menschen in Europa tatsächlich Europäer zu machen.

 Was ist die heute größte Herausforderung für die Union?

Überleben! Heute kann der Tod der Europäischen Union nicht mehr ausgeschlossen werden. Ich sehe hier zwei mögliche Szenarien. Das erste läuft auf den Tod der Union hinaus. Im zweiten Szenario schafft es Europa. Es schafft es dank europäischer Gesetze, die zu nationalen Gesetzen wurden; schafft es dank der engen Verflechtungen des Handels usw. Dies sind alles Schichten, die sich wechselseitig durchdringen und so Europa ein Fortkommen erlauben.

Für die EU wäre eine französische Präsidentin Marine Le Pen der GAU. Das könnte das Ende der Union nach sich ziehen, das Ende aller Projekte, die Frankreich, eine Säule des europäischen Werks, mit auf den Weg gebracht hat. Aber dieser Tod ist nicht unvermeidlich.

Europa musste mit vielen Krisen in seiner Nachkriegsgeschichte fertig werden. Doch zum ersten Mal bekommt die Union es mit äußeren und inneren Herausforderungen zu tun, ja, sogar mit einer Kombination aus beiden. Wir stehen erheblichen Gefahren gegenüber, denn diese vermengen sich in einem Augenblick, wo wir ohne verteidigungsfähige Grenzen dastehen. Dieses Knäuel an Krisen ist eine gewaltige Herausforderung für Europa, für das es hier um seine Existenz geht. Russland infiltriert Europa auf vielfältigen Wegen, und das ist nur eine Facette dieser Krisen.

 Wo sehen Sie die EU in zehn Jahren?

Das ist schwer zu sagen nach meiner Antwort auf die zweite Frage. Wir leben in einer Zeit der Unberechenbarkeit, und das überall auf der Welt und nicht nur in Europa. Die Leidenschaften sind in der Hand von Extremisten und Populisten ein Stoff für Manipulationen. Mit Erfolg? Mag sein, dass Marine Le Pen dieses Jahr Präsidentin wird – mag aber auch sein, dass sie in fünf Jahren von der politischen Szene verschwunden ist. Wer weiß?

Angesichts dieser Unberechenbarkeit denke ich liebe in Szenarien. Also: Das Schlimmste ist nicht immer sicher. Es gibt angenehme Überraschungen: In Rumänien, einem korrupten Land, demonstrieren die Massen gegen die Korruption. Die Spanier nehmen Flüchtlinge mit offenen Armen auf. Die Österreicher stimmen für einen Präsidenten Van der Bellen. In Frankreich ist ein Sieg von Emmanuel Macron nicht unmöglich. All das zeigt, dass es mitten in der Krise auch solide Elemente gibt.

Andererseits versteht dieses Europa nicht, sich in der Welt zu verkaufen, noch seine eigenen Grenzen zu verteidigen (zugegeben, diese sind schwerer zu schützen als etwa die Grenzen Kanadas). Die EU hat noch immer nicht eine Bestandsaufnahme ihrer Stärken und Schwächen geleistet. Vielleicht sind wir in zehn Jahren mehr, vielleicht weniger als 27 Mitglieder. Auch da ist vieles im Fluss, sind mehrere Szenarien denkbar. Kurz, vieles ist unvorhersehbar.

"Vonnöten sind Europapolitiker mit Vision und Überzeugungskraft, die die EU nicht unkritisch als Allheilmittel rühmen." Wim van Meurs (Niederlande)

Der Niederländer Wim van Meurs ist Professor für europäische Geschichte an der Radboud Universität Nijmegen

Herr van Meurs, was ist in Ihren Augen die herausragende Leistung der europäischen Integration?

Siebzig Jahre nach Kriegsende sind die Errungenschaften im Bereich der europäischen Friedenskonsolidierung und Wirtschaftskooperation längst in den Hintergrund geraten. Gleiches gilt für die Europäisierung wichtiger Politikbereiche wie Agrar- und Regionalpolitik oder Umweltschutz und den Abbau der Binnengrenzen sowie der Integration der süd- und osteuropäischen Staaten. Aus heutiger Sicht ist die bedeutendste Leistung eine, die von Medien und Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und gewürdigt wird. Europäische Vereinheitlichung hat viele praktische Fragen nachhaltig gelöst – von Roamingtarifen bis Wegfall der Grenzkontrollen, von Währungsumtausch bis Niederlassungsfreiheit. Dieser Bereich wächst unaufhörlich weiter, auch wenn zum Beispiel die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen als Antiterrormaßnahme in den Medien eine Rückabwicklung dieser europäischen Errungenschaften suggeriert.

Was ist heute die größte Herausforderung für die Union?

Vor fünf Jahren hätte man diesbezüglich sicherlich auf die einzelnen Krisen von der Eurokrise bis zum demokratischen Defizit der EU verwiesen. Heute ist es die Verzahnung von internen Krisen und externen Herausforderungen, die die Zukunft Europas bedroht. Gerade die Terroranschläge und Flüchtlingsströme sind Probleme, die für die Bürger unmittelbar spürbar sind. Sie führen dazu, dass Bürger von Europa das Unmögliche erwarten und gleichzeitig die Illusion hegen, dass der eigene Nationalstaat diesbezüglich besser aufgestellt sei. Unter dem Druck europaskeptischer Parteien und derer wachsenden Anhängerschaften geben sich viele Regierungen und Koalitionsparteien betont europakritisch und trauen sich nicht, für europäische Lösungen einzustehen.

Die größte Herausforderung ist meiner Meinung nicht die Entwicklung von Lösungsansätzen für diese einzelnen Probleme und Risiken. Vonnöten sind Europapolitiker mit Vision und Überzeugungskraft, die die EU nicht unkritisch als Allheilmittel rühmen, sondern zuallererst den Bürgern klarmachen, dass es für die identifizierten Probleme keine einfachen und keine nationalen Lösungen gibt. Das Beispiel des niederländischen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Frans Timmermans zeigt, dass ein Politiker, der nüchtern für Europa wirbt, auch in diesen euroskeptischen Zeiten sehr wohl bestehen und das Vertrauen der Bürger gewinnen kann.

Wo sehen Sie die EU in zehn Jahren?

Historiker tun sich mit Vorhersagen bekanntlich schwer. Unstrittig ist, dass Europa sich heute am Wendepunkt befindet. Die Schicksalsfrage ist nicht die zwischen Vertiefung der Integration einerseits und Zerfall der Europäischen Union andererseits. Viele Errungenschaften der EU sind auch für ihre erklärten Gegner unverzichtbar, wie die britischen Vorschläge für die Ausgestaltung des Brexit zeigen. Deshalb teile ich die Befürchtung eines "Ende von Europa" nicht. Dagegen spricht die interne Dynamik und Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Die Frage, ob weitere Austritte folgen werden, wird in hohem Maße vom Brexit-Verhandlungsprozess zwischen London und Brüssel abhängen.

Im breiteren Sinne ist sehr wohl denkbar, dass sich die EU in zehn Jahre grundsätzlich gewandelt haben wird. Dies ist aber nicht notwendigerweise nachteilig für Europa. Vorstellbar ist, dass sich stärker als bislang die differenzierte Integration durchsetzen wird. Der Leistungsdruck, der von Risiken und Bedrohung durch Terrorismus, schwache Nachbarstaaten und Migrations- beziehungsweise Flüchtlingsströme ausgeht, könnte dazu führen, dass europäische Staaten in einzelnen Bereichen außerhalb des institutionalisierten Rahmens der EU enger zusammenarbeiten. Nicht die Vollmitgliedschaft einer Union mit einer kombinierten Verantwortung für Binnenmarkt, Außenpolitik, Grenzschutz und Energiesicherheit ist dann entscheidend, sondern eine stabile "coalition of the willing" in Teilbereichen, an der sich Nicht-EU-Staaten beteiligen genauso wie Mitgliedstaaten außen vor bleiben können. Selbstverständlich ist nicht jeder Bereich für diesen Ansatz geeignet. Außerdem bildet die weitere Komplizierung der Entscheidungsfindung in der EU ein ernstzunehmendes Risiko. Umgekehrt könnten Koalitionen, die sich längerfristig nach geteilten Interessen und Aufgaben richten, auch für strategische Klarheit und Handlungsfähigkeit sorgen. Das würde heißen: neues Chancen für die Idee eines "multilayered Europe". Die EU des gemeinsamen Binnenmarkts und der vier Grundfreiheiten würde nach wie vor die Grundlage bilden, ergänzt von zum Beispiel einer Energie-Union oder Verteidigungsgemeinschaft. Unstrittig scheint, dass weder ein "weiter so!" noch eine Rückbesinnung auf das Nationale eine vernünftige Antwort auf die realen Herausforderungen von heute und morgen bieten.

"Die Lage ist ernst. Zur existenziellen Entscheidung über die Zukunft Europas wird die Wahl in Frankreich." Angelo Bolaffi (Italien)

Der Italiener Angelo Bolaffi ist emeritierter Professor für politische Philosophie an der Universität Sapienza in Rom

Herr Bolaffi, was ist in Ihren Augen die herausragende Leistung der europäischen Integration?

Die wichtigste Leistung der europäischen Integration besteht nach wie vor in der Schaffung und Erhaltung des Friedens in Europa. Nachdem Europa im Zweiten Weltkrieg fast zerstört wurde, hat die europäische Integration für eine bis dahin nicht gekannte Epoche des Friedens in Europa gesorgt. Dank dieser Epoche konnte eine positive wirtschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt werden, die mit großen sozialen und politischen Errungenschaften für die Bevölkerung einherging.

Was ist heute die größte Herausforderung für die Union?

Heute ist die Lage eine andere. Nicht, dass die Erhaltung des Friedens in Europa weniger wichtig geworden wäre. Die großen Herausforderungen liegen jedoch in der Gestaltung der Globalisierung und in der Steuerung der Migration. Beide Entwicklungen produzieren Ängste in der Bevölkerung. Und diese Ängste machen empfänglich für populistische Bewegungen.

Populismus, egal welcher Spielart, bietet jedoch keine Antworten. Aber die entsprechenden Analysen werden bei Teilen der Bevölkerung nicht angenommen. Verlangt wird vielmehr nach schnellen und radikalen Lösungen, obwohl – und anders als viele populistische Führer vorgeben, auf diese Probleme keine einfachen und schnellen Antworten gegeben werden können.

Wo sehen Sie die EU in zehn Jahren?

Die Lage ist ernst. Zur existenziellen Entscheidung über die Zukunft Europas wird die Wahl in Frankreich. Wenn Frau Le Pen die Präsidentschaftswahl gewinnt, dann ist Geschichte der Einigung zu Ende. Die Europäische Union kann ohne Großbritannien überleben, aber nicht ohne Frankreich.

"Die Idee der europäischen Integration ist einmalig in der Menschheitsgeschichte. Nirgendwo sonst leben ehemalige Erbfeinde in einer Gemeinschaft zusammen." Jan Wouters (Belgien)

Der Belgier Jan Wouters ist Professor für internationales Recht an der Katholischen Universität Leuven

Herr Wouters, was ist in Ihren Augen die herausragende Leistung der europäischen Integration?

Die EU hat dem europäischen Kontinent in den letzten 65 Jahren Frieden und Wohlstand gebracht. Die Idee der europäischen Integration ist einmalig in der Menschheitsgeschichte. Nirgendwo sonst leben ehemalige Erbfeinde, die unzählbar viele Kriege gegeneinander geführt haben, in einer Gemeinschaft oder Union zusammen, die auf gemeinsamen Werten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten gründet. Garantiert durch gemeinsame Institutionen, die dem europäische Interesse dienen, ermöglicht die EU den Abbau von Grenzen und den freien Verkehr von Ideen, Personen, Waren.

Was ist heute die größte Herausforderung für die Union?

Das Vertrauen der Bürger auf Dauer zurückzugewinnen. Das Image der EU hat großen Schaden erlitten. Verantwortlich hierfür sind die schwer nachzuvollziehenden Entscheidungsstrukturen, Gesetze, die als ungerecht und intransparent empfunden werden, das Fehlen eine starken und visionären politischen Führung sowie der ständige Streit zwischen Mitgliedstaaten, die nur auf ihre nationalen Interessen fixiert sind. Die EU sollte daher nicht nur seine institutionellen Strukturen vereinfachen. Insbesondere sollten an der Spitze der EU die kompetentesten und talentiertesten Führungskräften stehen, die sich für eine faire und gerechte Politik im Geist der Solidarität zwischen den Völkern Europas einsetzen.

Wo sehen Sie die EU in zehn Jahren?

Zehn Jahre sind vielleicht noch etwas zu kurz gegriffen, aber hier ist meine Vision: Abhängig vom politischen Mut der europäischen und nationalen Führungen sehe ich, dass sich die EU  zu einer reiferen politischen Union entwickeln wird, die über wirksamere Instrumente verfügt um ihre Menschen zu beschützen und ihre Grenzen zu sichern. Nach innen umfasst das einen stärker integrierten Raum, der allen Bürgern in Europa die besten Chancen im Hinblick auf Bildung, Beschäftigung und Wohlergehen gewährt. Nach außen wird die Union gefordert sein, global eine sehr viel entscheidendere Rolle in der multipolaren Welt zu übernehmen. Nur so kann die EU ihren Beitrag für Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung und dem Respekt vor den Menschenrechten leisten.

"Mit der Devise einer 'immer engeren Union' hat sich der europäische Integrationsprozess auf eine Einbahnstraße begeben, die sich als Sackgasse herausgestellt hat." Andreas Rödder (Deutschland)

Der Deutsche Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Herr Rödder, was ist in Ihren Augen die herausragende Leistung der europäischen Integration?

Die europäische Integration hat drei im historischen Maßstab herausragende Leistungen vollbracht. Die erste ist die Art des Umgangs der europäischen Staaten und Gesellschaften miteinander. Luxemburg, Belgien und Polen sind nicht mehr Einmarschgebiete für Armeen benachbarter Großmächte, sondern stellen Präsidenten der europäischen Institutionen. Zwischen den Staaten der Europäischen Union ist ein Krieg ähnlich undenkbar geworden wie zwischen den USA und Kanada – im Gegensatz zu Russland und der Ukraine. Die zweite Leistung liegt in der Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, indem die Europäische Union von ihren Mitgliedern verlangt, dass sie demokratische Rechtsstaaten sind. Und auch wenn dies in manchen Ländern nur leidlich der Fall ist: ohne europäische Integration wäre es deutlich weniger. Die dritte Leistung liegt in dem Beitrag, den die europäische Integration zur Stabilisierung Ostmittel- und Südosteuropas nach 1990 geleistet hat. Zu verhindern, dass den postkommunistischen Staaten dasselbe widerfährt wie den Staaten des zerfallenden Jugoslawien oder der Ukraine nach 1990, und dass sich wiederholt, was in dieser Region zwischen 1918 und 1945 geschah, wo die Schrecken des 20. Jahrhunderts am schlimmsten wüteten – das ist, trotz aller Schwierigkeiten der Osterweiterung, die eigentliche Erfolgsgeschichte der europäischen Integration nach 1990.

Was ist heute die größte Herausforderung für die Union?

Die größte Herausforderung für die Europäische Union liegt darin, alte Selbstgewissheiten zu überwinden und neue Antworten auf neue Herausforderungen zu finden. Mit der Devise einer „immer engeren Union“ hat sich der europäische Integrationsprozess gegen Kritik abgeschottet und auf eine Einbahnstraße begeben, die sich als Sackgasse herausgestellt hat. Die Europäische Union muss fähig zur Selbstkritik und bereit zur Korrektur werden, um die europäische Integration neu und offen zu denken. Denn handlungsfähig wird nur eine flexible Union sein, die undogmatisch, pragmatisch und offen fragt, wo mehr Integration nötig ist – und ebenso, wo Integration nicht funktioniert und daher zurückgebaut werden muss.

Wo sehen Sie die EU in zehn Jahren?

Die Zukunft der Europäischen Union scheint offen wie lange nicht. Und der Historiker weiß: alles ist möglich. Es kann sein, dass in den nächsten zehn Jahren angesichts äußerer Bedrohungen ein neuer Integrationsschub einsetzt, so wie nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954, nach der "Politik des leeren Stuhls" in den 60ern oder nach der "Eurosklerose" in den frühen achtziger Jahren – und dass im Moment nichts dafür spricht, wäre übrigens eine weitere historische Parallele. Es kann aber ebenso gut sein, dass der Brexit das alte Muster erstmals nachhaltig durchbrochen hat, dass nämlich die europäische Integration gerade durch ihre Krisen vorangebracht wird. Heute könnte es sein, dass die EU erodiert, sogar zerfällt. Dieser Befund klingt zunächst nach gehobener Ratlosigkeit – und formuliert doch eine Botschaft: Offenheit anstelle verkürzter Selbstgewissheiten, die den Blick verstellen.

"Physische und materielle Sicherheit stehen in der EU unter kontinuierlichem Druck. Das provoziert eine 'Jeder-für-sich'-Mentalität. Abschottung ist jedoch die falsche Lösung, um gemeinsame Probleme anzugehen." Viviane Reding (Luxemburg)

Die Luxemburgerin Viviane Reding ist Mitglied des EU-Parlaments, ehemalige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und Mitglied des Kuratoriums der Bertelsmann Stiftung

Frau Reding, was ist in Ihren Augen die herausragende Leistung der europäischen Integration?

Der größte Erfolg ist die Freiheit. Durch die Abschaffung der inneren Grenzen garantiert Europa die Handelsfreiheit für kleine und mittlere Unternehmen im Binnenmarkt, die Freizügigkeit der Bürger auf dem Kontinent, die freie Wahl der Universität für Erasmusstudenten. Indem es neue Rechte schafft bewahrt Europa die digitalen Freiheiten der Verbraucher durch  geregelten Datenschutz und Netzneutralität, sichert die Nichtdiskriminierung der Grenzgänger ab, wahrt die fundamentalen Rechte auf Basis der Grundrechtcharta und legt den Grundstein für eine europäische Bürgerschaft.

Was ist heute die größte Herausforderung für die Union?

Die größte Herausforderung ist die Sicherheit. Die physische und materielle Sicherheit steht unter kontinuierlichem Druck. Dieser Druck provoziert eine "Jeder-für-sich"-Mentalität. Abschottung ist jedoch die falsche Lösung, um gemeinsame Probleme anzugehen. Grenzsicherung für den Warenverkehr (handelspolitische Schutzinstrumente), und für die Menschen (Schutz der gemeinsamen Außengrenzen) steht an oberster Stelle. Die Schaffung einer regelrechten Sicherheits-Union (gemeinsamen Kampf gegen Kriminalität) und eine Verteidigungs-Union (Zusammenschluss der militärischen Kapazitäten) sind demnach Priorität. Europa muss beschützen, damit sich jeder Bürger in diesem Europa zuhause und geborgen fühlt.

Die Sicherheit im Inneren muss durch die Durchsetzungskraft nach außen ergänzt werden. Um einerseits unsere Lebensweise (Kultur, Agrarprodukte, soziale Rechte, Umweltschutz) nicht durch negative Einwirkungen zu gefährden. Um aber andererseits auf Weltebene Standards mitzugestalten.

Um dies zu erreichen bedarf es einer institutionellen Gemeinschaft, die funktioniert. Wenn notwendig sollte diese Gestaltungsfähigkeit von einem harten Kern von EU-Staaten ausgehen, die fähig sind Reformen durchzuführen und politische Gemeinsamkeit zu fördern. Andere Staaten, die nicht bereit sind solche grundlegende Politiken mitzutragen, könnten dann in einem zweiten Ring operieren. Nicht-EU-Staaten würden als dritter Ring durch eine verstärkte Nachbarschaftspolitik an das Kerneuropa gebunden sein.

Wo sehen Sie die EU in zehn Jahren?

Die Europäische Union ist stets gestärkt aus ihren Krisen hervorgegangen. In maximal 10 Jahren, so hoffe ich, werden wir alle verstanden haben, dass Souveränität nicht durch nationalen Alleingang, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln bewahrt werden kann.

Unser Vorstandsvorsitzender Aart De Geus zu 60 Jahren EU