Frankreich ist ein zerrissenes Land. Der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zeigt dies überdeutlich. Emmanuel Macron liegt mit 23,7 Prozent der Stimmen in Führung vor Marine Le Pen mit 21,5 Prozent. Beide Werte bestätigen damit die Prognosen der oft gescholtenen Meinungsforschungsinstitute aus der vergangenen Woche.
Erstmals in der Geschichte der Fünften Republik schafft es damit kein Kandidat der Mitte-links- oder Mitte-rechts-Parteien in den zweiten Wahlgang einer Präsidentschaftswahl. Dieses Misstrauensvotum spiegelt Umfragen wider, in denen bis zu 90 Prozent der befragten Franzosen ihre tiefe Ablehnung der etablierten Politiker ausdrückten.
Zusammengenommen machen die Stimmen für Kandidaten der extremen Linken und der extremen Rechten fast die Hälfte der Wählerschaft aus. Diese Wahl war somit auch eine gegen das bestehende „System". Jeder Zweite hat dabei gegen Europa votiert.
Doch es wäre zu schlicht gedacht, den Front National einfach zur Protestpartei zu stilisieren: Seit über drei Jahrzehnten ist er fester Teil der Parteienlandschaft und unter Führung von Marine Le Pen auch für bürgerliche Kreise wählbar geworden, die ihrem rüden Vater mit seinen kolonialistischen und rassistischen Ansichten nichts abgewinnen konnten. Das zeigt das Resultat vom Sonntag, selbst wenn Le Pen deutlich unter den Umfrageprognosen von bis zu 28 Prozent blieb.
Auch geografisch ist Frankreich zerrissen: Macron gewann im Westen und Südwesten des Landes, in den Regionen um Paris oder Lyon. Le Pen punktete im Norden, Osten und im Süden um Marseille. Es wäre voreilig, Le Pens Anhängerschaft dabei nur in einem peripheren, abgehängten Frankreich zu vermuten: Das Elsass und der Süden sind ökonomisch durchaus erfolgreiche Regionen. Frankreich zweifelt an sich selbst auch dort, wo es Grund zur Zuversicht hätte: Seine Krise ist ökonomischer, politischer und psychologischer Natur.