Nach dem gescheiterten Militärputsch ist die Türkei auf dem Weg in eine Präsidial-Diktatur. In rasantem Tempo schränkt Präsident Erdogan mit Unterstützung von Regierung und Mehrheit des Parlaments Rechtsstaat, Pluralismus und Meinungsfreiheit ein. Zehntausende Staatsbeamte, Lehrer und Hochschulmitarbeiter wurden bereits entlassen oder suspendiert, tausende Richter, Militärs, Polizisten und Journalisten verhaftet und Akademiker erhielten Reiseverbot. Statt mit Versöhnung und Demokratie auf den Putsch zu reagieren, fördert die Staatsführung eine weitere Spaltung der türkischen Gesellschaft und betreibt eine Gleichschaltung der Institutionen.
Verständlicherweise schlagen die Emotionen im Westen hoch: Wie kann ein NATO-Staat und Anwärter auf die EU-Mitgliedschaft sich so schnell aus der Wertegemeinschaft verabschieden, ohne dass die europäischen Regierungen Ankara isolieren oder sanktionieren? Fragen, auf die eigentlich scharf geantwortet werden müsste. Aber die verhaltenen Reaktionen aus Brüssel, Berlin und anderen europäischen Hauptstädten haben ihre Gründe.
Der Westen benötigt den NATO-Partner Türkei gerade jetzt – und er fühlt sich sogar zur engeren Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung verpflichtet. Doch warum? 1. Man braucht die Türkei militär-strategisch für den Kampf gegen den sogenannten "Islamischen Staat" (IS): Die 60 Staaten umfassende Anti-IS-Koalition hat gerade erst in Washington beschlossen, in den kommenden Monaten die nordirakische Großstadt Mossul von den Dschihadisten zu befreien. Die Türkei ist für die militärischen Aktionen, für die zu erwartende Versorgung der Flüchtlinge und den Wiederaufbau des Gebietes ein wichtiger Ausgangspunkt. 2. Die Türkei spielt eine wichtige Rolle bei der Beendigung des syrischen Bürgerkriegs und des damit verbundenen Flüchtlingsdramas. Washington und Moskau versuchen derzeit unter Führung der Vereinten Nationen eine neue Verhandlungsrunde auf den Weg zu bringen. Dafür ist man auch auf die Kooperation Ankaras angewiesen. 3. Die Türkei ist ein Schlüsselstaat in der aktuellen Flüchtlingssituation. Das europäisch-türkische Flüchtlingsabkommen ist erst wenige Monate alt und die Zahl der illegalen Grenzübertritte nach Europa schon von mehreren Tausend auf wenige Dutzend pro Tag gefallen. Solange die europäischen Mitgliedstaaten sich noch nicht über die Verteilung von Flüchtlingen und die Stärkung ihrer Außengrenzen verständigt haben, brauchen sie die Unterstützung der türkischen Regierung.
Zwar haben europäische Politiker eine mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei als so genannte "rote Linie" benannt und mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union gedroht. Da eine EU-Mitgliedschaft der Türkei aber eher unwahrscheinlich ist, bringt diese Drohung wenig. Auch angesichts der beschriebenen realpolitischen Sachzwänge ist es Zeit, sich einzugestehen, dass Europa wenig Einfluss auf die türkische Innenpolitik hat. Der Westen sollte daher eher auf den schwierigen diplomatischen Weg des Wandels durch Annäherung setzen. Die Beitrittsverhandlungen bleiben dabei trotz allem eines der wichtigsten Instrumente und sollten nun nicht leichtfertig abgebrochen werden. So würde auch den demokratischen und pro-westlichen Kräften in der Türkei signalisiert, dass Europa sie jetzt nicht im Stich lässt.
Mit der europäisch-türkischen Zollunion haben Europas Regierungen durchaus ein Druckmittel in der Hand. Das geplante Freihandelsabkommen TTIP würde der Türkei als nicht beteiligtem Drittstaat nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung empfindliche Wirtschaftseinbußen bescheren. Zudem ist Ankara auf westliche Finanzhilfen angewiesen: Die Unterbringung von Flüchtlingen und der Krieg in den Kurdengebieten sind teuer, Touristen bleiben zunehmend aus, infolge des Putschversuches sind die Börsen verunsichert und die Investitionen gehen zurück.
Abseits der Türkei haben der gescheiterte Putschversuch und die dann einsetzenden politischen Säuberungen auch Auswirkungen auf die türkischen und kurdischen Gemeinden in Europa. Sie spalten und radikalisieren auch vor unserer Haustür. Meinungs- und Demonstrationsfreiheit werden nun bisweilen für Hasstiraden und Beschimpfungen missbraucht. Erdogan-kritische Türken und Kurden sowie Europäer mit türkischem Migrationshintergrund erhalten üble Mails bis hin zu Morddrohungen. Türkisch- und kurdisch-stämmige Mitglieder des deutschen Bundestags werden – mit offizieller Rückendeckung aus Ankara – denunziert und bedroht. Hier müssen deutsche Behörden, Politiker und die Zivilgesellschaft auf zwei Ebenen entschieden eingreifen: Sie müssen einerseits die Bedeutung eines funktionierenden Rechtsstaats und des Grundgesetzes sichtbar machen. Andererseits müssen sie aber auch den Dialog mit türkischen und kurdischen Gruppierungen suchen, das Konfliktpotenzial offen ansprechen und Brücken der Verständigung schlagen. Damit schicken sie auch ein wichtiges Signal an die türkische Regierung: Rechtstaat, Freiheit, Versöhnung und Dialog können Früchte tragen.
Trotz Realpolitik bergen die Beziehungen Europas zur Türkei auch in Zukunft weiter Konfliktpotenzial. Die EU-Mitgliedstaaten müssen sich darauf einstellen, türkischen Intellektuellen schon bald unkompliziert Asyl zu gewähren. Außerdem wird Ankara auf der Einführung der Visafreiheit für türkische Bürger in der EU bestehen und weiter damit drohen, andernfalls das Flüchtlingsabkommen aufzukündigen. Des Weiteren unterhalten viele europäische NGOs, darunter unter anderem deutsche Stiftungen, Projekte und Büros in der Türkei. Was tun, wenn ihre Arbeit weiter eingeschränkt oder gar verboten wird? Überdies driftet das allgemeine Verständnis zu Themen wie Demokratie, Pressefreiheit, Nation, Islam und Terrorbekämpfung zwischen Europas Regierungen und Ankara immer weiter auseinander. Schließlich kann niemand vorhersagen, wie sich die Türkei weiter entwickeln wird, wenn zu der Notstandsgesetzgebung noch weitere Anschläge das Land erschüttern und sich der Krieg in den Kurdengebieten verschärft.
Europa und Deutschland stehen den Entwicklungen in der Türkei fast machtlos gegenüber. Es gibt keine einfachen Antworten. Aber trotz aller Realpolitik kann man Zeichen setzen und klar Position beziehen. Dies muss erfolgen – entschieden, europäisch abgesprochen und bald.
Ein Kommentar von Christian Hanelt