Text von Steffan Heuer für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 1/2015.
Digitalisierung als Fluch oder Segen? Oder beides?
Je schneller sich das Karussell der lückenlos vernetzten Wirtschaft dreht, umso heftiger wird um die Chancen, Risiken und ungeahnten Konsequenzen gestritten. Wir haben aktuelle Stimmen von Befürwortern und Kritikern gesammelt.
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Es ist keine Zukunftsvision mehr. Die Türklinke kann mit unserem Smartphone kommunizieren, Roboter liefern Pakete aus, Studenten vom anderen Ende der Welt belegen an der heimischen Universität virtuelle Gratis-Kurse, und ein fester Arbeitsplatz zu festen Zeiten klingt für viele Menschen reichlich antiquiert. Möglich wird all das durch die Kombination aus digitalen Prozessen plus nicht abreißenden Datenströmen — auch bekannt als „Internet der Dinge“ (IoT) oder gar „Internet of Everything“.
Dieses Netz der Netze bringt zum ersten Mal Menschen, Maschinen, Sensoren und Software zusammen und ermöglicht es, jedes noch so kleine Detail des Alltags zu messen, zu analysieren und diese zu handeln oder zu tauschen. Alles und jeder hängt in Zukunft am Netz und ist somit Mess- und Steuergröße zugleich. Ein Hardware-Hersteller wie Cisco veranschlagt den Wert dieses endlosen Netzes – nicht ganz uneigennützig – auf 19 Billionen Dollar, eine Zahl mit 12 Nullen. Doch was hat der normale Mensch als Verbraucher, Arbeitnehmer und Bürger davon, wenn er Teil und Teilnehmer dieser datengetriebenen Wirtschaft wird?
Digitaler Wandel
Expertenurteile zu dieser Frage könnten nicht unterschiedlicher ausfallen. An einem Ende des Spektrums steht der Wirtschaftswissenschaftler Robert Reich, ehemaliger Arbeitsminister unter Bill Clinton. Er prangert die so genannte Sharing Economy, also das Vermieten von allen möglichen Ressourcen, folgendermaßen an: „Wer will schon in einer Volkswirtschaft leben, in der Roboter alles erledigen, was sich verlässlich im Voraus programmieren lässt, und in der alle Gewinne an die Eigentümer der Roboter fließen? Die Menschen erledigen die Arbeit, die unvorhersehbar ist – Gelegenheitsjobs, Bereitschaftsdienste, abholen und reparieren, liefern, was rund um die Uhr gerade so anfällt – und versuchen damit mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.“
Am anderen Ende des Spektrums steht ein Goldgräber der neuen digitalen Ordnung wie Travis Kalanick, Gründer und Chef des ebenso üppig finanzierten wie umstrittenen Transport-Dienstes Uber. Nachdem er Taxifahrer und Kommunen in aller Welt auf die Barrikaden trieb, preist er nun die Vorzüge seines Geschäftsmodells: „Dieses Jahr steht für uns im Zeichen neuer Partnerschaften mit Städten in der EU. Bis zum Jahresende werden wir 50.000 neue Arbeitsplätze schaffen und 40.000 Autos aus dem Verkehr ziehen.“ Mehr Arbeit und weniger Abgase, folgt man Kalanicks Argument, weil zehntausende von Gelegenheitsfahrern und Millionen von Passagieren mit Hilfe einer Smartphone-App plötzlich Zugang zu einem der boomenden neuen Märkte für spontan geteilte Ressourcen haben.
Sharing Economy – der Siegeszug des Internets
Das in San Francisco beheimatete Unternehmen Uber ist der Blitzableiter der Sharing Economy – jenes neuesten Teils der digitalisierten Wirtschaft, in der sich potentiell jede kleinste elektronische und physische Einheit, also jedes Bit und jedes Atom, zeitnah ausschreiben und vermieten lassen, weil Angebot und Nachfrage von Millionen Menschen über Handys, Social Media und andere Kanäle vernetzt sind. In dieser neuen Welt wird das Eigentum klein- und die online gemakelte Nutzung von Büros, Wohnraum, Transportgelegenheiten, Parkplätzen und sogar Wissen oder Werkzeugen großgeschrieben. Für jeden Bedarf gibt es einen Markt und einen Dienst, der ihn erschließen kann - und bald dezentrale Fertigung, sobald 3D-Drucker verlässlich und preiswert genug sind. Die Pioniere der Bewegung stammen meist aus Kalifornien und haben Namen wie Airbnb für Unterkünfte oder TaskRabbit für Gelegenheitsarbeiten. Sie versprechen jedermann Zugang zu einem theoretisch weltweiten, niemals ruhenden Marktplatz an Kunden und kassieren stets nur eine Provision.
Neu ist dieser Trend nicht, denn ans Teilen sind Menschen schon seit Anbeginn der Zivilisation gewöhnt. Doch der Siegeszug des mobilen Internets hat neue Möglichkeiten geschaffen, die die ökonomische wie soziale Landschaft grundlegend verändern. Wer sich als Kleinunternehmer betätigen will, muss nicht mehr Kapital sammeln oder Infrastruktur aufbauen, sondern kann sich stattdessen mit ein paar Klicks auf einer schlüsselfertigen „Plattform“ darstellen, die Dienstleister wie Facebook oder Uber betreiben – mit allen Vor- wie Nachteilen, die deren Geschäftsbedingungen und eigenes Profitstreben mit sich bringen.
Analoge Rahmen für digitale Unternehmen
Neu sind die Radikalität und das Tempo des Wandels. Unbekannte Anbieter können sich mit Hilfe begeisterter Nutzer in kurzer Zeit zum Marktführer aufschwingen und etablierte Branchen wie Taxi-Unternehmen oder das Hotelgewerbe in Existenznot bringen. So haben sich in vielen Segmenten digital aufgestellte Anbieter ihre Nische erobert, während viele der technischen, ökonomischen, gesellschaftspolitischen oder rechtlichen Rahmenbedingungen unklar sind oder fehlen.
Was also steht der Welt bevor, wenn das maßgebliche Prinzip ökonomischer Transaktionen von morgen nicht mehr der Kauf, sondern das spontane Teilen und Tauschen ist? Wie gestaltet sich die Machtverteilung, wenn die Sharing Economy über wenige, quasi monopolistische Plattformen abgewickelt wird – ähnlich der dominanten Stellung, die Internet-Riesen wie Google bei der Suche und Facebook beim Social Networking heute schon besitzen? Und was passiert mit dem Mittelstand, einem Familieneinkommen oder dem Schutz geistigen Eigentums, wenn preiswerte 3D-Drucker es jedem erlauben, Blaupausen für Ersatzteile, Kleidung oder andere Bedarfsgegenstände herunterzuladen und Objekte auszudrucken so wie heute einen Brief?
Für den ehemaligen Internet-Unternehmer Andrew Keen, der sich zu einem der scharfzüngigsten Kritiker des Status quo entwickelt hat, steht die moderne Gesellschaft an einer Wegscheide. In seinem jüngsten Buch „Das digitale Debakel“ geht er mit der techniklastigen Heilslehre des Silicon Valley hart ins Gericht, wonach atemloser Fortschritt plus ehrgeizige Startups fast automatisch zu mehr Wohlstand und Zufriedenheit für alle führen.
Den Markt beherrschen
Das Internet der Dinge, also vernetzte Technik weit über Browser und Apps hinaus, wird zweifellos zu einem immer wichtigeren Teil unseres Lebens, räumt Keen ein. Die dazu nötigen technischen Komponenten – von Sensoren bis Software – seien langsam reif für den Massenmarkt. „Nehmen wir die Prognosen der schwedischen Telekom-Firma Ericsson, die eine der wichtigsten Erhebungen für Netz-Trends veröffentlicht. Danach werden im Jahr 2020 weltweit rund 50 Milliarden intelligente Geräte am Netz hängen. Wenn wir uns die Investitionen einer Firma wie Google ansehen“, so Keen, „wird deutlich, wie die vernetzte Revolution in unsere Wohnungen, den Energie- und Transportsektor vordringt.“ Als Beispiele nennt er intelligente Thermostate und Webcams sowie autonome Fahrzeuge, an denen neben Google auch Uber und neuerdings Apple arbeiten soll.
Unterm Strich, warnt Keen, können sich für jeden wichtigen Aspekt des vernetzten Lebens einige wenige Unternehmen als Marktmacher oder Schiedsrichter etablieren, an denen der Einzelne kaum oder gar nicht vorbeikommt. Bei der Suche und vielen anderen Informationen ist es Google, beim Networking ist es Facebook, bei der Logistik könnte es ein Anbieter wie Uber sein, und ein noch unbekanntes Unternehmen könnte die Online-Bildung beherrschen, wenn es die detaillierten Datenströme von Lehrern wie Schülern in seinem Netz konzentriert.
Digitale Utopien oder gesellschaftliche Evolution?
Dieses immer engmaschigere Gewebe aus Maschinen, Menschen und Sensoren hat also durchaus das Zeug, um die Welt zum Besseren zu verändern. Der Technologie-Vordenker Tim O’Reilly, der vor einem Jahrzehnt schon den Begriff des „Web 2.0“ als neue Phase des Internet prägte, formuliert die positiven Entwicklungen so: „Beim Internet der Dinge geht es geht darum, die Fähigkeiten des Menschen zu erweitern. Hardware und Software in alle möglichen Bereiche des Lebens vorzutreiben und bislang ungeahnte Feedback-Kreisläufe zwischen Geräten und Menschen zu schaffen.“
Auch der Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger sieht enormes Potenzial für die datengetriebene Welt. In seinem jüngsten Buch nennt er Big Data „die Revolution, die unser Leben verändern wird.“ Rapide wachsende Datenströme haben nicht nur bestehenden Unternehmen wichtige neue Einsichten beschert, neue Märkte erschlossen und besseren Kontakt zu ihren Kunden ermöglicht, sondern sind ebenso die Basis vieler Neugründungen und der Ansporn für Kommunen, ihren Bürgern bessere und zeitnahe Dienstleistungen zu bieten. „Die Fähigkeit, persönliche Daten zu sammeln, ist unverzichtbarer Bestandteil der Werkzeuge, die wir tagtäglich benutzen, von Webseiten bis zu Smartphone Apps“, sagt der Akademiker.
Für Netz-Kritiker wie Keen wirft der Boom bei Daten und Diensten, die auch noch so kleine Details sammeln und auswerten, erhebliche Fragen nach der Fairness und Monopolmacht auf. „Dieses neue Wirtschaftssystem, dessen Entstehung wir gerade miterleben, ist alles andere als kollaborativ und gemeinschaftlich. Ist es die Idylle der Sharing Economy, in der wir alle als Kleinunternehmer perfekt vernetzt sind und unsere Ressourcen zu Markte tragen, oder ist es etwas viel Düstereres? Mich erinnert es eher an die Exzesse der Frühindustrialisierung“, so der gebürtige Brite, der im Silicon Valley lebt. „Heute arbeiten keine Kinder mehr an Drehbänken oder werden ganze Stadtteile von Abgasen oder Abwässern vergiftet. Dafür lassen wir uns anders ausbeuten, in Datenfabriken namens Facebook oder Google. In dieser Daten-Wirtschaft produzieren wir alle rund um die Uhr, meist freiwillig und aus narzisstischer Verblendung, während diese Firmen aus unseren persönlichen Informationen Gewinn schlagen.“ Gleichwohl muss auch Keen zugeben, dass die Bilanz nicht nur negativ ausfällt. Die Flexibilität und Transparenz des Netzes haben vielen Menschen neue Möglichkeiten eröffnet, Arbeit zu finden, Geld zu verdienen oder ihre Ideen und Meinungen mit einem weltweiten Publikum zu teilen.
Die Weltsicht verändern
Der ehemalige Chefredakteur der Harvard Business Review, Nicholas Carr, geht die Frage etwas anders an, denn er macht sich um die Auswirkungen auf den Einzelnen Gedanken. Wie verändern sich unsere Fähigkeiten und unser Selbstverständnis in der Welt, wenn wir immer mehr Entscheidungen Programmen überlassen? „Wenn ich Software benutze, stelle ich mich auf die Weltsicht ihrer Urheber ein“, warnt Carr. „Wer sich auf Google Maps verlässt, sieht die Welt durch die Augen von Google. Wer Facebook benutzt, presst seine sozialen Kontakte durch den Filter einer Firma und ihrer Algorithmen. Streng genommen vertrauen wir Black Boxes, deren Inneres uns als Wirtschaftsgeheimnis verborgen bleibt.“ Vom Verlust zutiefst menschlicher, also intellektueller und handwerklicher Fähigkeiten wie dem Orientierungssinn oder Designästhetik ganz abgesehen.
In den Augen von Digitalisierungs-Befürwortern wie Googles Eric Schmidt sind solche Einwände unnötige Schwarzmalerei. Er skizziert in seinem 2013 erschienenen Buch „Die Vernetzung der Welt“ das Gegenteil: eine weitgehend glänzende Zukunft, in der wir alle besseren und gerechteren Zugang zu Informationen, Personen und Ressourcen haben, weil vorausschauende Unternehmen wie Google das Feld bereitet haben. Schmidt beschreibt einen globalen Marktplatz an Ideen und Technologien, bei dem trotz aller Algorithmen und künstlicher Intelligenz immer noch der Mensch das letzte Wort hat: „Lassen Sie sich nicht weismachen, die Maschinen übernähmen das Kommando. Was in Zukunft geschieht, liegt bei uns.“ Das fängt für Googles Executive Chairman bei der Tatsache an, dass bald Arm und Reich gleichermaßen am Netz hängen werden.
Die lückenlose Vernetzung als egalitäre Kraft zu betrachten, widerstrebt dem bekannten Informatiker Jaron Lanier, der für Microsoft forscht und sich mit mehreren Büchern zu Wort gemeldet hat, zuletzt 2014 mit „Wem gehört die Zukunft?“ Lanier ist für neue Technik grundsätzlich offen, aber steht ihren oft wirtschaftlich getriebenen Auswüchsen misstrauisch gegenüber, insbesondere den möglichen Schattenseiten der Sharing Economy.
„Ich bin kein Utopist“, legte er kürzlich in San Francisco seine Bedenken dar. Insbesondere, da ist sich Lanier mit Keen einig, sei die Sharing Economy aufgrund des Netzwerkeffektes, bei dem der Größere stets noch größer wird, alles andere als fair. Wer die größten und leistungsfähigsten Rechenzentren besitze, könne mit der Macht der Daten pokern und den Großteil der Gewinne auf sich ziehen – selbst wenn es auf den ersten Blick so aussehe, als würden für alle dieselben Wettbewerbsbedingungen gelten.
Ähnlich ernüchternd fällt Laniers Urteil über die Verheißungen des 3D-Drucks als angeblich demokratische Zukunft der Fertigung aus. Auch hier werde den Größten der größte Teil des Marktes und der Gewinne zufallen. Wenn Verbraucher und Staat nicht gegensteuern, warnt der Informatiker, werden eine Handvoll mächtiger Plattform-Player die Volkswirtschaft unter sich aufteilen, während in ihren Systemen zig Millionen moderner Tage- oder Minutenlöhner um digital vergebene Kleinstjobs buhlen.
Keen haut in dieselbe Kerbe: „Auch wenn wir alle 3D-Drucker zuhause stehen haben, sind wir weiterhin ein paar weltweit dominanten Plattformen ausgeliefert, die die Hardware und Software dieser neuen Produktionsprozesse beherrschen und dafür ihren Preis verlangen. Und was passiert mit den Arbeitsplätzen in traditionellen Fabriken und im Einzelhandel?“
Hilfe oder Verdrängung?
Selbst wer sich nur die nüchternen Analysen von Wirtschaftswissenschaftlern ansieht, der findet eine zwiespältige Realität vor. Experten an Harvards Kennedy School of Government haben sich vor kurzem die Mühe gemacht und alle seriösen, neueren Studien zur Sharing Economy zusammengefasst. Auch die 13 Seiten lange akademische Bilanz kann die Frage nicht beantworten, ob „traditionelle, sichere Arbeitsplätze unterm Strich einer Welt von schlecht bezahlter Teilzeit-Arbeit weichen.“ In dieser offenen Gleichung fehlt sogar noch der kritische Faktor Roboter, die den Menschen im Internet der Dinge helfen oder sie verdrängen können.