Demonstrierende Menschen halten Plakate in die Höhe

Wissenschaft und Politik näher zusammenbringen: ein europäischer Standpunkt

Wir leben in einem Zeitalter der Verunsicherung und daraus resultierender politischer Turbulenzen. Ob prekäre Staatsfinanzen, Pandemierisiken oder der ökologische Kollaps – die Menschheit scheint von einer Krisenbewältigung in die nächste zu stolpern. Das Weltwissenschaftsforum in Kapstadt will eine Alternative zum kurzfristigen politischen Handeln aufzeigen.

Von Craig Willy

Kurz nach seinem Amtsantritt bekräftigte US-Präsident Joe Biden: „Die Politik meiner Regierung ist es, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen, die sich an den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen und Daten orientieren.“ Hochrangige Politiker und politische Entscheidungsträger in Europa und anderswo haben ähnliche Erklärungen abgegeben.

Dieses Bestreben, Politik mit Wissenschaft in Einklang zu bringen, steht im Mittelpunkt des alle zwei Jahre stattfindenden Weltwissenschaftsforums, das sich in Anlehnung an das Weltwirtschaftsforum als das „Davos der Wissenschaft“ begreift. Vom 6. bis 9. Dezember werden im südafrikanischen Kapstadt Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zusammenkommen, um über den möglichen Beitrag der Wissenschaft bei der Bewältigung von globalen Herausforderungen zu diskutieren.

Dieses Event bietet eine Alternative zum gegenwärtigen Trend der reaktiven Politikgestaltung, die dazu neigt, kurzfristige Lösungen zu improvisieren, obwohl es genauso dringlich ist, sich wichtigen Entwicklungen zu widmen, die (noch) nicht akut sind.

In einer neuen Studie plädieren Wissenschaftler der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung dafür, dass Demokratien weltweit mehr tun sollten, um langfristige Probleme konsequent anzugehen. Die aktuellen Krisen wie geopolitische Konflikte, Klimawandel, Pandemien, soziale Polarisierung und wachsende Ungleichheit „verlangen von den Regierungen deutlich mehr Anstrengungen, sowohl langfristiges Denken als auch Geschick im Krisenmanagement zu beweisen.“

Wie Wissenschaft die Politik verbessern kann

Eine langfristige Politikgestaltung erfordert ein hohes Maß an Voraussicht und Selbstdisziplin. Das wirft die Frage auf: Wie können Prozesse, Institutionen und Gewohnheiten darauf ausgerichtet werden, Wählern informierte Entscheidungen zu ermöglichen und eine wahrhaft pluralistische politische Debatte zu erhalten?

Eine Antwort der Autoren der Bertelsmann Stiftung ist, Wissenschaftler und andere Experten frühzeitig zu konsultieren, um die Legitimität und Qualität der politischen Entscheidungsfindung zu verbessern. Experten, die auf transparente Weise ausgewählt werden, könnten neueste wissenschaftliche Erkenntnisse in den Mittelpunkt der Debatten zwischen Bürgern und Politikern rücken.

Der Bertelsmann-Studie zufolge beziehen einige Länder Expertenwissen bereits wirksam in die Politikgestaltung ein, darunter Kanada, Norwegen und Chile. In dem südamerikanischen Land „üben Kommissionen, die hauptsächlich aus akademischen Experten bestehen und ein breites politisches Spektrum abdecken, erheblichen Einfluss auf die Formulierung von Regierungsprogrammen und die Entwicklung politischer Reformvorschläge aus.“

In der Türkei wie auch einigen europäischen Ländern stellt die Studie hingegen einen eklatanten Mangel an Expertenbeteiligung in nationalen politischen Entscheidungsprozessen fest. Dies ist umso erstaunlicher, als die Europäische Union seit langem die Bedeutung der Wissenschaft für die politische Entscheidungsfindung herausstellt. Sie strebt eine solide Wissensgrundlage an, um wirksam auf Krisen zu reagieren und gleichzeitig den notwendigen Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft zu steuern.

Die Europäische Union: globaler Wissenschaftsakteur und Treiber für technologische Regulierung

Europa ist im globalen Vergleich ein bedeutender wissenschaftlicher Akteur sowie Treiber von Regulierung und Innovation. Neben den Vereinigten Staaten und China gehört die EU zu den drei wichtigsten Weltregionen für die Publikation wissenschaftlicher Spitzenforschung. Das EU-Programm Horizon Europe ist mit einem Budget von 95,5 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021 bis 2027 das vielleicht größte öffentliche Forschungs- und Innovationsprogramm der Welt.

Darüber hinaus ist die EU mit ihrem Markt von 447 Millionen Verbrauchern und einer Wirtschaftsleistung, die etwa einem Sechstel der Weltwirtschaft entspricht, eine einflussreiche wissenschaftliche und technologische Regulierungsbehörde. Die Datenschutz-Grundverordnung der EU zwang Webseiten auf der ganzen Welt zur Einführung von Cookie Bannern und löste analoge Rechtsvorschriften in so unterschiedlichen Ländern wie Kalifornien und China aus.

Auch der Entwurf einer EU-Verordnung zur Regulierung der Künstliche Intelligenz (KI) regt weltweit einen Dialog über die rechtmäßige Nutzung von KI an. In seiner jetzigen Form würde das Gesetz beispielsweise der Polizei die Nutzung von KI zur Gesichtserkennung verbieten oder die Anwendungen von KI in Systemen, die der sozialen Überwachung dienen.

Strukturen für evidenzbasierte Politikgestaltung

Über Zusammenkünfte wie das Weltwissenschaftsforum hinaus braucht die wissenschaftliche Konsultation Strukturen und Regelmäßigkeit. Die europäischen Institutionen stützen sich in ihrer Arbeit auf eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Gremien und Expertengruppen. Die EU-Kommission verfügt über einen eigenen wissenschaftlichen Dienst, die Gemeinsame Forschungsstelle (GFS), die seit 2014 mehr als 3.000 wissenschaftliche Berichte zu fast jedem erdenklichen Thema erstellt hat.

Generell ist die Kommission bestrebt, in ganz Europa Wissenschaftler systematisch in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen. Seit 2019 widmet sich eine zentrale Abteilung den Megatrends und erstellt Zukunftsszenarien, die strategische Weitsicht in die Politikgestaltung integrieren.

Auch die europäischen Gesetzgeber nutzen wissenschaftliches Fachwissen: Die Mitglieder des Europäischen Parlaments verlassen sich auf einen Ausschuss, die sogenannte STOA-Kommission, wenn es darum geht, wissenschaftliche Expertise einzuholen und Debatten über technologische Themen wie KI, Quantencomputer oder 5G-Telekommunikation zu führen.

Wir sollten unsere Erwartungen an die Wissenschaft nicht zu hoch schrauben. Wie bei jeder unabhängigen oder zivilgesellschaftlichen Institution kann auch hier die Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung in eine Politisierung ausarten. Die Wissenschaft kann uns Einblicke in die Welt geben und uns technologisch befähigen. Dieses Wissen klug zu nutzen, bleibt jedoch unsere Aufgabe.

Die folgenreichsten Entscheidungen für die Zukunft der Menschheit in diesem Jahrhundert werden aller Voraussicht nach mit wissenschaftlichen Durchbrüchen zusammenhängen. Wie Länder auf der ganzen Welt Erkenntnisse nutzen und Technologien übernehmen – von KI über Gen-Editierung bis zu neuen Energiequellen – wird von großer Bedeutung für das menschliche Leben, ja für alles Leben auf der Erde, sein.

Die Qualität politischer Entscheidungen wird vom Gelingen des Dialogs zwischen Wissenschaftlern, Volksvertretern und Bürgern abhängen. Die Expertenbeteiligung, wie sie einige Länder bereits vorbildlich etabliert haben, die systematische Expertenkonsultation der EU-Institutionen oder internationale Treffen wie das Weltwissenschaftsforum sind erfolgreiche Beispiele dafür, wie ein solcher Dialog gestaltet werden kann. Wenn dieser Dialog wirklich offen ist und mit gutem Willen um die Zukunft geführt wird, wird er das gegenseitige Verständnis fördern und zu bestmöglichen Lösungen führen.

Craig Willy ist politischer Autor und Analyst. Er berichtet über die Europäische Union, Wissenschaftspolitik und Technologie.

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.