Volodymyr Selensky wendet Petro Poroschenko den Rücken zu

Die Ukraine 2049 – Vision erfolgreiche Zukunft

Eine starke Führungspersönlichkeit wird ersehnt, die Gesellschaft soll erneuert werden. Doch bringt der neue Herrscher echten Fortschritt oder bloß eine weitere Etappe im sich ständig wiederholenden Ritual der Macht? Was Richard Wagners "Parsifal"-Storyline mit der Ukraine zu tun hat.

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Ein Irrtum und ein Missverständnis begleiten die Wahl

Kein Kandidat steht zuverlässig für euroatlantische Integration – obwohl es der Wunsch der großen Mehrheit der ukrainischen Bürger ist. Die EU ist der Rettungsanker, um Korruption und schlechter Regierungsführung zu begegnen. Beides sehen die Ukrainer neben dem Krieg mit Russland als größte Herausforderung. Doch wenn Noch-Präsident Poroschenko den EU-Beitritt verspricht, ist das ein Lippenbekenntnis. Reformen sind dort gelungen, wo die Interessen mächtiger Eliten nicht berührt werden. Die Ausnahmen im Banken- und Energiesektor oder im Gesundheitsbereich zeigen nur, dass ohne den Druck der ukrainischen Zivilgesellschaft und internationaler Partner wenig vorankommt.

Der kompetitive Wahlkampf verstellt den Blick darauf, dass die Ukrainer auch fünf Jahre nach der Zäsur des Euromaidan noch immer wenig Wahl zwischen "alten" und "neuen" Politikern haben. Letztere sind in Kiew deutlich in der Unterzahl. Reichweitestarke TV-Kanäle von Oligarchen und ein Wahlgesetz, das Geld und Politik intransparent verflicht, versperren den Weg in nationale Bekanntheit und Politik.

Der Polit-Neuling Selensky hat den Zugang, den neue Politiker in der Ukraine sonst nicht haben – Mit dem Fernsehen erreicht er Wähler im ganzen Land. Erfolgreich wurde er als Mann des Systems. Seine Geschäftsbeziehungen zu dem berüchtigten Oligarchen Ihor Kolomoisky lassen hinterfragen, ob Selensky politisch unabhängig handeln kann und will.

Kampf gegen Korruption

Kein Kandidat steht zuverlässig für Transparenz und Fairness, offene Märkte und Wettbewerb, das Auflösen der Monopole, Rechtsstaatlichkeit und Justizreform. Poroschenko ist Teil des Problems. Er steht Funktionsträgern nahe, die in Skandale verwickelt sind. Sein Anti-Ranking, also die Gruppe derer, die ihn auf keinen Fall wählen würden, ist das höchste.

Als Schauspieler und Kabarettist hat Selensky den Korruptionskampf und gutes Regieren zu seinem Markenzeichen gemacht. Ob die reale Person Selensky die Ukraine so verändern wird, wie die Serienfigur Vasyl Holoborodko, der achtbare Geschichtslehrer und Neupräsident mit seinem Team rechtschaffener Freunde, ist offen.

Trump 2.0 – Wie der "Diener des Volkes" die Grenzen zum Wahlkampf aufhebt

Die dritte Staffel der mitreißenden Selensky-Serie "Diener des Volkes" ging rechtzeitig vor der ersten Wahlrunde auf Sendung. Ukrainische Studenten, 2049 in Wohlstand lebend, blicken verständnislos auf die Misere von 2019 zurück, aus der "Präsident" Holoborodko in Rückblenden herausführt. Alle Schmerzpunkte der Gegenwart kommen vor, dass Alter und Armut oft verbunden sind oder dass Eigeninteressen noch immer vor Menschenwürde gehen für Einige, die die ukrainische Gesellschaft der Gegenwart künstlich spalten. Die nächsten Folgen werden kurz vor der Stichwahl erwartet.

Gleichzeitig tourt Selensky mit seinem langjährigen Kabarett-Team Kvartal 95 durch das Land. Videos der Auftritte, die die aktuelle Politikerelite imitieren, gehen über alle Social Media Kanäle – etwa wie sich Präsident, Premierminister, Julia Timoschenko und Vitaly Klitschko vermeintlich inkognito mit Sonnenbrillen und Hüten im Kino treffen, um Selenskys Erfolg nachzuspüren. Allein auf Instagram folgen Selensky rund 3 Millionen Abonnenten.

Ausweg aus dem sich wiederholenden Ritual der Macht?

Doch warum glauben die Bürger, mitten in einem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, den sie mit dem Euromaidan selbst auf den Weg gebracht haben, dass es dem "Diener des Volkes" auch im wirklichen Leben mit dem Gemeinwohl ernst ist?

Viel hat mit Erwartungen zu tun und der Distanz zwischen Hauptstadt und Land: Jene mit niedrigen Erwartungen verweisen auf das Überleben der ukrainischen Nation unter schwierigsten Bedingungen oder finden, dass nachhaltige Reformen Zeit brauchen. Jene mit hohen Erwartungen sind enttäuscht: dass nach wie vor oligarchische Interessen statt politischer Ideen konkurrieren, der wirtschaftliche Aufschwung ausbleibt und Verantwortliche für Fehlverhalten nicht zur Rechenschaft gezogen werden, viele gar ihre Vormacht demonstrativ zur Schau stellen.

So setzen viele auf den Mann, der als unbedarfter aber redlicher und bescheidener "Präsident" die Zeitschleife unterbricht und die Ukraine in eine für alle gute Zukunft führt – im Fernsehen.

Die Realität wird komplizierter

Beim realen Kandidaten finden sich neben Aufrufen zu mehr Bürgerbeteiligung und Appellen, ihm Politikvorschläge zu schicken, noch wenig Inhalte, auch wenn er und sein Wahlkampfteam nach der ersten Wahlrunde um Nachliefern bemüht sind. Aber viele Wähler erwarten gar keine Details, sondern wollen den unverdorbenen Neuling mit gesundem Menschenverstand.

Governance-Fragen – es ist das hohe Maß an Korruption und die Partikularinteressen statt der Rechtsstaatlichkeit die sich in der Ukraine durchgesetzt haben. Und es hält die Investoren fern. Wir erhalten viele Anfragen von verschiedenen Investoren, und wir sehen die Möglichkeiten in der Ukraine, aber immer wieder hören wir die Bedenken über die Regierungsführung.

Weltbank-Länderchefin Satu Kahkonen

So dürfte Selensky auch in der nun angesetzten direkten Debatte mit Poroschenko gut fahren, wenn er Lücken nicht leugnet und Lernbereitschaft signalisiert – kurz: so ist wie der lautere und pfiffige Polit-Neuling Holoborodko, der mit dem Rad zur Arbeit fährt und vor sich hinsingt, dass er sein Land, seine Frau und seinen Hund liebt.

Zudem lädt er angesehene Einzelpolitiker als Berater ein, die sich durch Kritik am System Poroschenko hervorgetan haben. Ob er ihnen in einer künftigen Regierung wichtige Ämter zugestehen wird, ist offen, ebenso bislang, wen er als Generalstaatsanwalt, Außen- und Verteidigungsminister und Geheimdienstchef will.

Demokratie: schwierig und langwierig, aber attraktiv

Ohnehin werden die Ukrainer erst im Herbst die 424 Abgeordneten ihres Parlaments neu wählen, mit denen der Präsident zusammenarbeiten muss. Zumindest hier dürfte Julia Timoschenkos exzellent organisierte Vaterlandspartei gut abschneiden. Die übrige Parteienlandschaft wird sich neu sortieren; neben Selensky und Poroschenko werden der gegenwärtige Premierminister und der mächtige Innenminister Einfluss nehmen. Auch die Reformparteien Bürgerposition und Selbsthilfe werden vertreten sein, aber nicht in entscheidender Stärke.

Vermutlich dominieren vorerst weiter die Interessen einzelner die nationale Politik, und echte Reformpläne hängen an zivilgesellschaftlicher Kontrolle und westlicher Aufmerksamkeit.

Dennoch ist es von fundamentaler Bedeutung, dass westliche Partner zuverlässig die Rahmenbedingungen stützen, unter denen sich Demokratie und Demokraten in der Ukraine weiterentwickeln können. Nur dann werden nicht noch mehr Ukrainer ihr Land frustriert verlassen.

Ebenso wie "Parsifal" trifft der "Diener des Volkes" einen Nerv über das eigene Land hinaus – viele Kommentare in den Sozialen Medien aus Russland sind von der Euphorie angesteckt, dass Wandel möglich sei – und rufen nach einem Präsidenten wie Holoborodko.

Volodymyr Selensky, Schauspieler und TV-Produzent, hat die erste Runde der ukrainischen Präsidentschaftswahl deutlich gewonnen. Er dürfte auch die Stichwahl am Ostersonntag gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko für sich entscheiden und der nächste Präsident der Ukraine werden. Das könnten allenfalls noch ihn persönlich entehrende Enthüllungen verhindern.