Foto vom 5. Polittalk aus der Hauptstadt mit Lars Klingbeil (links) und Friedrich Merz (rechts)

Friedrich Merz: "Die Deutschen sind ein überaus hilfsbereites Volk."

"Krieg in Europa – Zeitenwende in Deutschland". Dieses Thema haben am vergangenen Donnerstag (24.03.2022) beim fünften "#Polittalk aus der Hauptstadt" Lars Klingbeil, Co-Parteivorsitzender der SPD, und Friedrich Merz, Parteivorsitzender der CDU und Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kontrovers diskutiert. Der #Polittalk wurde gemeinsam mit dem Inforadio des rbb und der Süddeutschen Zeitung veranstaltet und von Angela Ulrich (Inforadio) und Stefan Braun (Süddeutsche Zeitung) moderiert.  

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Prof. Dr. Robert Vehrkamp
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Zu Beginn der Debatte waren sich die beiden Diskutanten einig, dass die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Deutschen Bundestag am 17.03.2022 ein besonderer parlamentarischer Moment war. Lars Klingbeil räumte allerdings selbstkritisch ein, dass es ein Fehler war, nach der Rede "einfach zur parlamentarischen Tagesordnung übergangen zu sein". Er habe sich im Nachhinein bei Selenskyj entschuldigt. Friedrich Merz wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die deutsche Gesellschaft "krisenentwöhnt" sei. "Wir haben in der Vergangenheit erlebt, dass wir uns um Freiheit und Demokratie nicht mehr sonderlich bemühen müssen. Und seit vier Wochen stellen wir fest, dass dem nicht so ist."

Große Mehrheit unterstützt humanitäre Hilfe für die Ukraine

An der Sendung nahm auch unser Demokratie-Experte Robert Vehrkamp teil. Er stellte aktuelle Trends aus unserem Demokratiemonitor vor: Fast 80 Prozent der Menschen in Deutschland sind der Meinung, dass Deutschland im Ukraine-Krieg humanitäre Hilfe leisten soll. Das ist eines der zentralen Ergebnisse einer neuen repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag unserer Stiftung. Deutschland soll in dieser Situation zuallererst humanitäre Hilfe leisten, zum Beispiel mit Trinkwasser, Arzneimitteln und Verbandsmaterial. Das sagen acht von zehn aller Deutschen (79 Prozent). Ebenfalls mehr als zwei Drittel (68 Prozent) sind dafür, dass Deutschland durch die Aufnahme von Geflüchteten Hilfe leisten soll und etwas weniger als zwei Drittel befürworten Wirtschaftssanktionen. Dagegen sind nur elf Prozent der Meinung, Deutschland solle auch mit Soldaten helfen. Die Auffassung, Deutschland solle die Ukraine nicht unterstützen, vertreten nur sieben Prozent aller Befragten.

Die große Mehrheit unterstützt damit nicht nur humanitäre Hilfe, sondern vor allem auch die Aufnahme von Geflüchteten und die Wirtschaftssanktionen. Das ist ein derzeit stabiles Fundament, auf dem die Politik der Bundesregierung aufbauen kann.

Robert Vehrkamp, Demokratie-Experte der Bertelsmann Stiftung

Klingbeil und Merz hörten diesen Ausführungen gespannt zu und Merz interpretierte daraus einen klaren Auftrag an die Politiker, die Verantwortung tragen: "Die Deutschen sind ein unglaublich hilfsbereites Volk. Daraus ergibt sich eine große Verantwortung für die Politik, weil wir diese Hilfsbereitschaft gut organisieren müssen." Er kritisierte in Richtung der neuen Bundesregierung, dass das Krisenmanagement der vergangenen Wochen nicht besonders gut gewesen sei: "Als Opposition haben wir zwei Wochen lang eine schnellere Organisation gefordert. Das haben auch die Ministerpräidenten in der Ministerpräsidentenkonferenz gefordert." Das Krisenmanagement der SPD sei nicht so gut gewesen, wie es Lars Klingbeil dargestellt hat, meint Merz. 

Klingbeil widersprach: "Ich habe mich selbst in Flüchtlingsunterkünften kundig gemacht. Die notwenigen Strukturen aufzubauen hat viel schneller geklappt als 2015 und die Hilfsbereitschaft zu organisieren klappt ja inzwischen gut. Da sind wir deutlich weiter als bei der letzten Migrationswelle 2015. Wir schaffen es auch auf europäischer Ebene besser zu organisieren." Klingbeil warf Merz vor, er trage dazu bei, dass die Solidarität im Land bröckeln könnte. "Denn die Forderung der Opposition nach einer schnellen Registrierung der Geflüchteten beispielsweise sei nicht notwendig, weil sich Ukrainer:innen 90 Tage ohne Registrierung in Deutschland aufhalten dürfen."

Der Fraktionschef Merz machte dann noch deutlich, dass sowohl Regierung als auch Opposition das gleiche Ziel verfolgen: "Ich bin der Meinung, dass wir unsere Hilfsbereitschaft dauerhaft zeigen sollten und auch müssen. Wir wollen das gemeinsam hinbekommen."

Knappe Mehrheit für EU-Beitritt der Ukraine

Die Ukraine möchte so schnell wie möglich Mitglied in der EU werden. Dafür spricht sich in der Umfrage zum #Polittalk eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Befragten aus. Nur jede:r Fünfte ist dagegen (20 Prozent). 29 Prozent sind in dieser Frage noch unentschieden.  

SPD-Chef Klingbeil machte sich im #Polittalk für eine Aufnahme der Ukraine in die EU stark. "Das sind Europäer", sagte der 44-Jährige. Es sei richtig, der Ukraine "sehr deutlich" zu sagen, dass man sie in der EU wolle. Er erklärte außerdem, dass der Aufnahmeprozess beschleunigt werden könnte. Der CDU-Vorsitzende Merz hingegen sieht einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine kritisch. Er wies darauf hin, dass die Ukraine auch rechtstaatliche Standards einhalten müsse. Beim Thema Korruption belege das Land im internationalen Vergleich einen hinteren Platz: "Wenn wir jetzt der Ukraine wegen eines Krieges so schnell wie möglich den Beitrittsstaus geben, hat das Konsequenzen auf andere Regionen", warnte Merz. Er richtet in diesem Zusammenhang seinen Blick auf den Westbalkan. 

Russland will seine Macht ausbauen

Robert Vehrkamp schilderte im Laufe der Sendung, dass mehr als sieben von zehn Menschen in Deutschland (71 Prozent) der Meinung sind, dass Russland mit seinem Angriff auf die Ukraine vor vier Wochen seinen Einfluss ausdehnen und seinen Machtbereich erweitern will. Lediglich 19 Prozent meinen, Russland wolle mit dem Krieg die Position sichern, die es schon jetzt hat. Zehn Prozent sind bei dieser Frage unentschlossen. "Die Ergebnisse zeigen sehr deutlich eine neue Qualität auch in der Wahrnehmung der russischen Aggression. Es geht nicht nur um die Ukraine, sondern um mehr. Auch die meisten Menschen in Deutschland empfinden den Ukraine-Krieg als eine Zeitenwende in Europa", erklärt Vehrkamp. 

Auf diese Zeitenwende hätte Deutschland nach Ansicht von Unions-Mann Merz besser vorbereitet sein müssen: "Spätestens nach dem Minsker Abkommen, das Putin nie eingehalten hat, hätten wir uns besser vorbereiten müssen. Das gilt auch bei der Frage der Energielieferung aus Russland." In der Debatte über Gaslieferungen aus Russland machte Klingbeil deutlich, dass Deutschland nicht so einfach auf die Energielieferungen aus Russland verzichten könne: "Wir kommen nicht von jetzt auf gleich aus den Energielieferungen aus Russland raus. Das hätte juristisch und wirtschaftlich tiefgreifende Konsequenzen." Merz stimmte zu, dass dieser Aspekt eine sehr komplexe Angelegenheit sei. Der Krieg und seine Folgen sei für alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein sehr schwieriges und belastendes Thema, sagte Merz: "Wir Abgeordneten stehen mit den Problemen, die dieser Krieg mit sich bringt, morgen auf und gehen damit abends schlecht ins Bett."

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