Ein Dach mit einer Photovoltaikanlage, im Hintergrund der blaue Himmel und ein Windrad.

Frischer Wind dank Wir-Gefühl

Immer mehr Kommunen wollen ihre Energieversorgung selbst in die Hand nehmen. Sie kaufen Stromnetze zurück und gründen neue Stadtwerke. Doch wer soll das finanzieren? Vielerorts lautet die Antwort: die Bürger.

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Text von Jens Poggenpohl für change – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Beitrag aus change 4/2014.

Dass seine Frau und er einmal als „Stromrebellen“ bekannt sein würden – diese Vorstellung hätte Michael Sladek im Frühjahr 1986 sicher als absurd belächelt. Schließlich war sein Leben als praktischer Arzt und Vater von fünf Kindern in der Schwarzwald-Gemeinde Schönau schon ausgefüllt genug. Auch als am 26. April im Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl ein Reaktor explodierte, hielt er Ruhe für seine Bürgerpflicht. Schließlich konnte es aus Sicht der Sladeks ja ohnehin nur eine vernünftige Reaktion auf den GAU in der Ukraine geben. „Wir waren uns sicher, dass die Politik die Atomkraftwerke stilllegen würde“, erinnert er sich. Doch nichts geschah. Umso mehr jedoch im 2.300-Einwohner-Ort. Ein zähes Ringen begann, an dem sich immer mehr Schönauer beteiligten, bis man genug über die diffizile Materie wusste und beschloss: Wir wollen unser Stromnetz kaufen und die Versorgung als Genossenschaft selbst übernehmen.  

Das hatte es in Deutschland noch nie gegeben. Der Versorger reagierte mit utopisch hohen Forderungen: 8,7 Millionen, später 5,7 Millionen Mark sollte das Netz angeblich wert sein. Doch mithilfe einer bundesweiten Kampagne („Ich bin ein Störfall“) brachte man immerhin zwei Millionen Euro auf, zwang den Betreiber vor Gericht zu einer weiteren Reduktion, und zwei Bürgerentscheide später, am 1. Juli 1997, war es so weit: Die Elektrizitätswerke Schönau (EWS) übernahmen die Regie in Sachen Energie – nach strikt ökologischen Richtlinien und zu 100 Prozent in Besitz einer Genossenschaft.   Wenn Ursula und Michael Sladek, beide 68 Jahre alt, sich in wenigen Wochen aus dem Unternehmen zurückziehen, müssen sie sich um die Zukunft der EWS keine Sorgen machen – und das nicht nur, weil die Söhne Sebastian und Alexander an ihrer Stelle in den Vorstand einziehen. Die einstigen Exoten sind im Mainstream angekommen: 3.500 Mitglieder und 160.000 Kunden hat die Genossenschaft heute, im vergangenen Jahr wurde Ursula Sladek von Bundespräsident Joachim Gauck mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichnet. Und waren bis zum Jahr 2008 nur vereinzelt Nachahmer des Schönauer Modells zu finden, gab es Ende 2012 schon über 750 Energie-Genossenschaften. Noch ist kein Ende des Booms in Sicht.

Dezentral und regional

Drei Gründe sind es vor allem, welche die Verhältnisse in der kommunalen Energieversorgung derzeit gehörig durcheinanderwirbeln und die Frage nach der Finanzierung in den Fokus rücken. Zum einen sorgt die Energiewende schon jetzt dafür, dass die Energieversorgung deutlich dezentraler und regionaler wird. „Früher waren Kommunen und deren Betriebe eher Einkäufer und Weiterleiter von Energie“, erklärt Wolf-Rüdiger Stahl, Bereichsleiter Energie bei der Deutschen Anlagen-Leasing (DAL ). „Diese wandeln sich heute zunehmend zu Produzenten mit den entsprechenden Finanzierungserfordernissen.“ Und die haben es in sich: So beziffert der Bundesverband Erneuerbare Energien e. V. die gesamten Investitionen bis 2020 auf rund 235 Milliarden Euro.  

Zudem laufen in den kommenden Jahren die meisten Konzessionsverträge für den Netzbetrieb aus. Allein in Nordrhein-Westfalen haben in den kommenden fünf Jahren so theoretisch mehr als 300 Kommunen die Chance, den Netzbetrieb selbst zu übernehmen. Doch angesichts notorisch knapper Kassen stellt sich auch und gerade die Frage: Wer soll das finanzieren? In immer mehr Kommunen lautet die Antwort darauf: die Bürger.

Ein neues Rollenverständnis

Einer Studie zufolge, die das Leipziger Kompetenzzentrum Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge e. V. mit der Bertelsmann Stiftung und der Kanzlei Wolter-Hoppenberg im Frühjahr dieses Jahres vorgelegt hat, ist die Energieversorgung sogar Vorreiter für ein neues Rollenverständnis, das sich auf vielen Feldern zu etablieren beginnt: „Während der Staat immer mehr an die Grenzen seiner – insbesondere finanziellen – Leistungsfähigkeit gerät, wird die Bürgergesellschaft selbstbewusster und eigenständiger.“

Die Finanzierungsformen sind dabei vielfältig, wie einige aktuelle Beispiele zeigen: So ist die BürgerEnergie Jena e. G. mit ihren derzeit 859 Mitgliedern und Einlagen in Höhe von 8,2 Millionen Euro ein Anteilseigner der örtlichen Stadtwerke.   Im Fall der 2013 gegründeten Gemeindewerke Wendelstein funktioniert die Bürgerbeteiligung etwas anders: Die Kunden schließen mit dem Versorger der fränkischen Gemeinde ein individuelles Darlehen ab, das über zehn Jahre läuft und verzinst wird. Damit finanzieren die Gemeindewerke zum Beispiel Photovoltaikanlagen in der Region. Und im Windpark Berching in der Oberpfalz erzeugen die sieben Windmühlen auf der Hochebene östlich der Stadt rund 50 Millionen Kilowattstunden Öko-Strom pro Jahr – mehr als 150 Prozent des Verbrauchs der ganzen Stadt. Über 2.000 Bürger und acht Kommunen sind an diesem Projekt der Windpower GmbH beteiligt, direkt über die Betreibergesellschaften oder indirekt über Energiegenossenschaften.  

Der Charme dieser Modelle besteht darin, dass die gesamte Wertschöpfung vor Ort verbleibt: Die Kommune gewinnt finanziellen Spielraum, die Bürger erhalten mehr oder weniger viel Mitspracherecht und überdies eine Rendite, die zumindest mit anderen festverzinslichen Anlagen durchaus konkurrieren kann. Mit 2,5 Prozent begnügt man sich dabei in Wendelstein, in Schönau hat die Genossenschaft sich bei vier Prozent eine „Gier-Bremse“ verschrieben, obwohl laut Sladek deutlich mehr drin wäre. Ohnehin glaubt er: „Am Geld scheitern vernünftige Projekte nie.“  

Wenn es nur immer um Vernunft ginge. Es geht aber auch um Macht und alte Pfründe. Tatenlos sehen die Stromkonzerne den Emanzipationsbewegungen jedenfalls nicht zu. Sie wehren sich, sei es mit Marketing oder juristischen Kniffen. Es geht zudem um Politik. „Wir haben zwar die Atomenergie geächtet, nicht aber die Strukturfragen geklärt. Zudem haben sich die Aktionsfelder von Genossenschaften verschlechtert“, beklagt Michael Sladek mit Blick auf die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) und neue gesetzliche Rahmenbedingungen für Genossenschaften.

"Energie ist Daseinsvorsorge"

Thorsten Krüger, Bürgermeister der Kleinstadt Langen

Und es geht schließlich hier und da sicher auch um die Eitelkeit von Bürgermeistern, die die eigenen unternehmerischen Fähigkeiten über-, die Risiken und langfristig nötigen Investitionen dagegen unterschätzen. So wie heute viele Städte darunter leiden, dass die Erlöse aus der Privatisierungswelle der 1990er Jahre nicht nachhaltig investiert wurden, könnte sich mancherorts in einigen Jahrzehnten der Preis für die Rekommunalisierung als allzu hoch erweisen.  

Für Thorsten Krüger jedenfalls steht fest: „Energie ist Daseinsvorsorge.“ Krüger weiß, was knappe Kassen sind. Als er vor neun Jahren zum Bürgermeister der Kleinstadt Langen in der Nähe von Bremerhaven gewählt wurde, belief sich der Schuldenstand auf über 30 Millionen Euro. Krüger musste sparen. Doch ihn machte die Finanznot erfinderisch. So gab er die „Statt-Aktie“ der „Stadt Langen AG“ (Aktive Gemeinschaft) heraus, mit der die Bürger ermuntert wurden, aktiv die freiwilligen Leistungen der Stadt mitzufinanzieren.  

Ein ganzheitliches Energiekonzept wollte der Bürgermeister auch gestalten: Als europaweit wohl erste Kommune stellte Langen 2010/2011 die Straßenbeleuchtung vollständig auf die LED-Technologie um, finanziert durch ein 1,5-Millionen-Euro-Darlehen der kfw-Bankengruppe. Durch die eingesparten Strom- und Wartungskosten könne das Darlehen in elf Jahren zurückgezahlt sein, glaubt Krüger.  

Jetzt will man einen Energiepark bauen. Die Kommune kann dazu nur einen Teil beisteuern. Gut möglich, dass sich der örtliche Versorger, die EWE, finanziell beteiligt. „Die EWE ist ein Partner, der die neue Rolle von Versorgern erkannt hat“, freut sich Krüger. Ein Teil der Investitionen schließlich soll aus Bürgerhand kommen. Darum macht sich Krüger wenig Sorgen, dafür seien der Gemeinschaftsgeist und das Miteinander zu ausgeprägt. „Das Wir ist auf kommunaler Ebene ohnehin das größte Geheimnis“, sagt er.

In fast zehn Jahren schuldenfrei

Apropos: Am 1. Januar 2015 wird Langen Geschichte sein. Dann nämlich fusioniert die Stadt mit der Samtgemeinde Bederkesa zur neuen Stadt Geestland. Dank eines Zukunftsvertrags mit dem Land Niedersachsen wird die neue Stadt massiv von Schulden entlastet. Geht der Plan Krügers, der jüngst mit über 80 Prozent der Stimmen zum ersten Bürgermeister der Fusionsgemeinde gewählt wurde, auf, ist man in nahezu zehn Jahren schuldenfrei – und hat mehr Spielraum für eines der zentralen Handlungsfelder, die man sich auf die Fahnen geschrieben hat: die Energieversorgung.