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Kai Michalak

Fachtagung: Mitwirkung mit Wirkung!

Der Bürger ist viel vernünftiger, als die Politiker es wahr haben wollen – vorausgesetzt, der Beteiligungsprozess ist gut gestaltet, und der Bürger hat echte Mitsprachemöglichkeiten.

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Dies ist die Erfahrung von Tom Campbell, ehemaliger Politiker aus Seattle und Experte für die Gestaltung von Bürgerbeteiligungs-Prozessen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Campbell präsentierte neue Formen der Bürgerbeteiligung zum Auftakt des neuen Projektes „Politik gemeinsam gestalten“ der Bertelsmann Stiftung am 9. Februar 2011 in Berlin. Einhundert Experten und Interessierte aus Bundesministerien, Staatskanzleien und Länderministerien diskutierten auf der Tagung „Mitwirkung mit Wirkung“ die Frage „Wie findet eine Kultur der Bürgerbeteiligung Eingang in Politik und Verwaltung?“

 Tom Campbell ermutigte die Teilnehmer, Demokratieexperimente zu wagen. Die vielfältigen Beteiligungsprojekte und Erfahrungen aus Amerika zeigen, dass Bürgerbeteiligung in jeder Phase eines Reformprozesses stattfinden kann. So beteiligten sich beispielsweise in Kalifornien Bürger an der Gesundheitsreform: 3.500 kalifornische Bürger aus acht Städten diskutierten auf Bürgerversammlungen simultan über alternative Vorschläge der Regierung zur Gesundheitsreform. Anschließend stimmten Bürger über die in den Bürgerversammlungen priorisierten Gesetzentwürfe ab. Dafür wurden 120.000 Bürger  kontaktiert, 300.000 Briefe und 2 Mio. SMS verschickt. Besonders gut eignen sich Themen, die für Bürger unmittelbar relevant sind und die je nach Interessenlage und Perspektive kontrovers diskutiert werden. „Bei der Gestaltung von Beteiligungsprozessen sind zwei Faktoren ganz besonders wichtig, damit die Bürger begründete Entscheidungen treffen können. Sie benötigen umfassende, gut strukturierte und verständliche Informationen mit Zahlen, Daten, Fakten. So können sie sich in das Thema einarbeiten, die Interessen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verstehen und die Folgen abschätzen. Und die Bürger müssen sich mit Bürgern aus anderen sozialen Kontexten über ihre Werte auseinandersetzen, um sich Kriterien für ihre Entscheidungen und ihre Prioritäten zu erarbeiten“ resümiert Campbell. Eine Expertengruppe kann helfen, im Vorfeld fundierte Materialien für die Bürger zusammenzustellen und die „richtigen“ Fragen zu stellen. Ein „Drehbuch“ für das Prozessdesign, eine neutrale Moderation und die Dokumentation der Ergebnisse sind unerlässlich.

Der feste Wille von Politikern, ernsthaft und nachhaltig Bürgerbeteiligung zu etablieren, ist eine wichtige Voraussetzung, damit eine neue politische Kultur der Bürgerbeteiligung entsteht. Anders als in Stuttgart 21 kommt es zukünftig darauf an, von Anfang an die Bürger umfassend zu informieren und einzubeziehen. Die Grünen führen zurzeit im Rahmen ihres  Zukunftsforums Demokratie  eine breit angelegte Debatte über demokratische Entscheidungsprozesse und werden in Kürze neue Lösungen für mehr Bürgerbeteiligung vorstellen. Claudia Roth, Bundesvorsitzende der Partei Bündnis 90 / Die Grünen: „Wenn wir als Politiker Bürgerbeteiligung glaubhaft voranbringen wollen, müssen wir mehr zuhören und bereit sein, uns offen und auf Augenhöhe in einen Dialog mit den Bürgern zu begeben. Das kann auch bedeuten, dass wir weniger Handlungsspielräume – auch für „Tauschgeschäfte“ mit dem politischen Gegner - haben und dass wir unter Umständen auch „falsche Entscheidungen“ akzeptieren müssen. So erhöhen wir die Akzeptanz der Bürger für politische Reformen und stärken das Vertrauen in die Politik.“

Zwei Bürgerbeteiligungsprojekte wurden aus den Bundesländern präsentiert. Rheinland-Pfalz hat im Rahmen einer Kommunal- und Verwaltungsreform ein komplexes und lang angelegtes Beteiligungsprojekt umgesetzt. In einem mehrstufigen Verfahren beteiligten sich über 13.500 Bürger auf Regionalforen, Bürgerkongressen, in Planungszellen sowie Interviews. Sie entwickelten ein Leitbild, erstellten ein Bürgergutachten mit konkreten Empfehlungen und stimmten darüber ab. Viele Vorschläge der Bürger zur Gebietsreform und zur bürgerfreundlichen Verwaltung wurden in das neue Gesetz übernommen. „Wir sind sehr froh, dass wir mit unserem Projekt „Meine Meinung zählt“ unsere Rheinland-Pfälzischen Bürger motivieren konnten, an einem so einem trockenen Thema wie eine Verwaltungsreform mitzuwirken. Wir waren positiv überrascht, dass unsere Bürger bereit waren, richtig viel Zeit zu investieren und ihre Ideen einzubringen. Mit der Bürgerbeteiligung konnten wir der Opposition, die gegen die Verwaltungsreform agiert hat, den Wind aus den Segeln nehmen. Der Bürgerwille mit den repräsentativ erarbeiteten konkreten Reformvorschlägen der Bürger selbst war ein gewichtiges Argument für die Reform. Mit Blick auf die Zukunft hat unser gelungenes „Demokratieexperiment“ noch einen wichtigen Nebeneffekt gehabt: Wir konnten auch viele Skeptiker aus der eigenen Landesverwaltung überzeugen. Die positiven Erfahrungen haben uns viel Mut gemacht, den eingeschlagenen Weg fortzuführen und den vermeintlichen „Kontrollverlust“  erneut zu wagen“, betonte Christoph Charlier, Leiter der Abteilung Ressortkoordination und Regierungsplanung, Staatskanzlei Rheinland-Pfalz.

Bessere Partizipationsmöglichkeiten bietet auch die Internet-Plattform „Aufbruch Bayern“ der bayerischen Staatsregierung. Hier waren die Bayerischen Bürger aufgerufen, sich mit ihren Ideen und Vorschlägen zu den Themen Familie, Bildung und Innovation an der Erarbeitung des nächsten Regierungsprogramms zu beteiligen. „Wir haben die Erfahrung gemacht, je konkreter die Themen und je klarer die Aufgabenstellung, desto eher sind die Bürger bereit, uns ihre Ideen mitzuteilen“, so Annette Denove, Ministerialrätin Presse, Öffentlichkeitsarbeit und Internet, Bayerische Staatskanzlei.  

Neben ernstgemeinten Angeboten der Politik und Verwaltung können auch die Bürger selbst einen wesentlichen Beitrag leisten. Juli Zeh, Autorin und Juristin fordert die Bürger auf, aktiver zu werden und die bereits jetzt bestehenden demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten zu nutzen. „Wir können nicht von der Politik erwarten, dass sie uns immer das Demokratiepäckchen hinterherträgt. Wahrscheinlich waren 90% der Deutschen noch nie bei einer Stadtratssitzung oder bei einem Abgeordneten. Schon in der Schule sollten die Schüler demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten kennenlernen und demokratisches Handeln einüben. Warum gehen Schüler immer in den Zoo? Warum gehen sie nicht zu einer Gemeinderatssitzung oder nehmen an einer Anhörung teil?“ fragte sich Juli Zeh.   

An runden Tischen diskutierten die Teilnehmer über Hemmnisse, Chancen und Schlüsselfaktoren für mehr und bessere Bürgerbeteiligung in ihrem Arbeitsbereich in einer Staatskanzlei oder einem Ministerium. Ihrer Ansicht nach lässt der Rechtsrahmen bereits heute ausreichend Spielräume, um neue Verfahren und Methoden der Bürgerbeteiligung zu erproben und z.B. traditionelle Planungsverfahren um neue Formen zu erweitern. Allerdings ist die grundsätzliche Bereitschaft der Landes- und Bundesverwaltungen, sich für neue alternative Formen der Bürgerbeteiligung zu öffnen, noch gering. Und 50% der Teilnehmer schätzen, dass es noch zehn Jahre dauern wird, bis sich eine neue Kultur der Bürgerbeteiligung in Staatskanzleien, Bundes- und Landesministerien etabliert hat. 

Umso wichtiger ist es, Demokratieexperimente einzugehen und mehr Erfahrung auf Landes- und Bundesebene mit neuen Formen direkter Bürgerbeteiligung zu sammeln. Das Projekt „Politik gemeinsam gestalten“ der Bertelsmann Stiftung war als Begleit- und Folgeprojekt des Reinhard Mohn Preises 2011 konzipiert. In dem Projekt wurden gute Beispiele aus aller Welt in Deutschland bekannt gemacht. Partner aus Politik und Verwaltung wurden gesucht, die neue Formen und Wege der Bürgerbeteiligung in konkreten Modellprojekten erproben wollten. „Im Vergleich zu anderen Ländern befinden wir uns mit den wenigen Bürgerbeteiligungsprojekten auf Bundes- und Landesebene in der Diaspora. Durch unsere Vor-Ort-Recherchen für den Reinhard Mohn Preis 2011 in Amerika und Australien haben wir wunderbare Beispiele kennengelernt, die zeitgemäße bürgerfreundliche Verfahren und das Internet nutzen. Diese Projekte haben viel Potenzial, die repräsentative Demokratie in Deutschland zu stärken“, sagte Frank Frick, Director, Programm Zukunft der Beschäftigung / Good Governance, Bertelsmann Stiftung.

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