Eine Person wirft einen Stimmzettel in eine Wahlurne, hinter der eine Europafahne aufgehängt ist.

Warum diese Europawahlen so wichtig sind

Der Europatag am 9. Mai markiert in diesem Jahr zugleich den Beginn des letzten Monats vor den Europawahlen. Vom 6. bis 9. Juni sind alle Wahlberechtigten in der Europäischen Union aufgerufen, ein neues Europäisches Parlament zu wählen. Unser Europa-Experte Malte Zabel erklärt, warum die diesjährigen Europawahlen besonders entscheidend für die Zukunft des Kontinents sind und wo die Herausforderungen für die politische Entscheidungsfindung in der EU in den nächsten fünf Jahren liegen dürften.

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Dr. Malte Tim Zabel
Co-Director

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Man hat sich schon fast daran gewöhnt. Alle fünf Jahre sagen wir Pro-Europäer: "Diese Europawahl ist die wichtigste, die es je gab." Wir erinnern uns: Ein paar Monate vor der Europawahl 2009 war gerade Lehman Brothers kollabiert, eine veritable Banken- und Finanzkrise hatte erst die USA und dann den Alten Kontinent erfasst. Eine geeinte Union schien wichtiger denn je, um den strauchelnden Bankensektor auffangen zu können. 2014 war aus der globalen Finanzkrise längst auch eine europäische Staatsschuldenkrise geworden, die zu Polarisierung und Rissen in der EU geführt hatte. Umso wichtiger schien es, dass die EP-Wahlen ein Zeichen europäischer Geschlossenheit senden würden (was nicht wirklich gelang). 2019 schließlich war Donald Trump schon zwei Jahre amerikanischer Präsident, die Briten hatten sich für den Brexit entschieden, die "Flüchtlingskrise" hatten ihren Höhepunkt erlebt und es wurde immer offensichtlicher, dass die EU ein Problem mit der Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit in den eigenen Reihen hatte. Erneut, so der Tenor jener Zeit, war die bevorstehende Europawahl die wichtigste aller Zeiten, um den zentrifugalen Kräften in einer kritischen Phase erfolgreich begegnen zu können. Es ist deswegen nicht neu, zu behaupten, dass die anstehende Europawahl ganz besonders wichtig sei. Und doch stimmt es. Erneut. Dieses Mal ganz besonders. 

Warum? Schauen wir uns an, wo die EU heute steht. Die Lage ist ernst. Das war sie auch schon vor fünf Jahren, aber dieses Mal steht noch mehr auf dem Spiel. Die EU befindet sich womöglich in der entscheidendsten Phase ihrer 70-jährigen Geschichte. Die Fülle und Schwere der Krisen, Herausforderungen und Umbrüche, mit denen sie sich gleichzeitig konfrontiert sieht, ist beispiellos. In Summe haben sie das Potenzial, elementare Pfeiler der europäischen Ordnung zu erschüttern. Russlands Angriff auf die Ukraine hat schonungslos offengelegt, dass Europas Sicherheit und Verteidigung völlig neu konzipiert werden müssen. Sowohl militärisch als auch wirtschaftlich muss die EU massiv investieren, um kritische Abhängigkeiten zu verringern. Dies gilt umso mehr, als dass die transatlantische Zukunft ungewiss ist und China sich immer offensichtlicher als systemischer Rivale zeigt. Hinzu kommt: Der Kampf gegen den Klimawandel erfordert noch größere Anstrengungen, als wir bisher in Kauf zu nehmen bereit waren. Zugleich haben wir erheblichen Aufholbedarf bei der digitalen Transformation, die gemeinsam mit dem Wandel zu mehr Nachhaltigkeit die europäische Wirtschaftsordnung massiv verändern wird. Hier geht es um nichts weniger als unsere zukünftige Wettbewerbsfähigkeit und den wirtschaftlichen Zusammenhalt Europas. Der kürzlich veröffentlichte Binnenmarkt-Bericht des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta hat gezeigt, wie groß der Handlungsbedarf ist. 

All dies wäre schon einigermaßen epochal. Die EU trägt aber auch noch so manche Altlast mit sich herum. Einige Krisen und Probleme, über die wir schon 2009, 2014 und 2019 diskutiert haben, sind noch immer unzureichend gelöst. Die Eurozone ist nach wie vor nicht hinreichend krisenfest, Banken- und Kapitalmarktunion bleiben unvollendet. Der jüngste Asyl-Reform-Kompromiss scheint  nur bedingt geeignet, das Problem langfristig zu lösen. Die Beziehungen zum Vereinigten Königreich, die im geopolitischen Zeitalter wieder wichtiger werden, sind nicht wirklich konstruktiv geregelt. Last but not least steht die EU vor dem Problem, dass Teile ihrer Governance schlichtweg nicht mehr tauglich sind, um all diesen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. 

So ist die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik heute kein Traum europäischer Förderalisten mehr, sondern eine politische Notwendigkeit. Gleiches gilt für die Durchsetzung des Rechtstaatlichkeitsprinzips, das ein unverhandelbarer Nukleus der inneren Ordnung der EU sein muss. Beides, eine durchsetzbare Stärkung der Rechtstaatlichkeit sowie die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, sind neben einer Flexibilisierung der Zusammenarbeit (Stichwort "Koalitionen der Willigen") zentrale Säulen einer längst überfälligen Reform. Dies gilt umso mehr, wenn die EU aus guten Gründen ihre Erweiterung um die Staaten des Westbalkans, die Republik Moldau, Georgien und hoffentlich auch der Ukraine in der nächsten Legislaturperiode ernsthaft vorantreiben will. Ein Bericht unabhängiger deutsch-französischer Expert:innen aus dem September letzten Jahres hat diesen Konnex zwischen Erweiterung und Reform sehr eingänglich begründet – und damit glücklicherweise beim Europäischen Rat von Granada im letzten Jahr Gehör gefunden. Aber wie lange hält diese Erkenntnis und wie mehrheitsfest wird sie in der kommenden Legislaturperiode sein? Wird die EU in den nächsten fünf Jahren tatsächlich die Kraft haben, all die Herausforderungen und Reformen erfolgreich anzugehen, von denen ihr Schicksal abhängt? 

Ein Rechtsruck verändert die Dynamik politischen Handelns

Womit wir zurück zur Europawahl kommen. Allen aktuellen Umfragen zufolge ist damit zu rechnen, dass Parteien des rechten Randes zulegen werden, während sozialdemokratische, liberale und grüne Parteien verlieren dürften. Schlössen sich die beiden rechten Gruppierungen "Europäische Konservative und Reformer" (EKR) und "Identität und Demokratie" (ID) zusammen, wie es etwa Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán seit einiger Zeit vorschwebt, könnten sie gemeinsam die zweitgrößte Fraktion stellen. Manche Umfragen sehen sogar die Chance, dass die beiden Gruppierungen bei einer strukturierten Zusammenarbeit rechnerisch die größte parlamentarische Kraft werden könnten. Zwar erscheint es angesichts historischer Erfahrung und der immer noch beträchtlichen Meinungsverschiedenheiten in Europas rechter Parteienlandschaft zweifelhaft, dass ein solches Bündnis tatsächlich zustande kommt. Auch dürften die Fraktionen der Mitte weiterhin  über eine absolute Mehrheit verfügen. Aber es gibt im Europäischen Parlament keine festen Koalitionen und nur bedingt so etwas, was wir aus dem Bundestag als „Fraktionsdisziplin“ kennen. Deshalb ist damit zu rechnen, dass sich die Dynamik des parlamentarischen Arbeitens verändert und das Finden politischer Lösungen schwieriger wird. 

Werden rechtspopulistische Stimmen in Kernfragen wie etwa der europäischen Migrationspolitik, der Unterstützung der Ukraine oder der Umsetzung des Green Deals lauter, erhöht dies den Druck auf konservative Parteien der rechten Mitte. Der Fraktion der "Europäischen Volkspartei", die in der aktuellen Legislaturperiode oft mit Sozialdemokraten und Liberalen abgestimmt hat, kommt vor diesem Hintergrund in der nächsten Legislaturperiode eine besondere Bedeutung zu. Wird sie sich als voraussichtlich stärkste Kraft den Positionen des rechten Randes etwa bei Einwanderungs- oder Klimafragen annähern? Wird sie nach  Mehrheitsoptionen jenseits von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen suchen, insbesondere bei Parteien der EKR? Beides könnte den quantitativen Machtzuwachs des rechten Lagers qualitativ noch aufwerten. 

Nun hängt die Zukunft Europas nicht allein von den Europawahlen ab. Mindestens ebenso wichtig sind die nationalen Wahlen, die noch im Superwahljahr 2024 und sodann über die nächste Legislaturperiode hinweg stattfinden. Auch die amerikanische Präsidentschaftswahl wird massive Auswirkungen auf Europa haben.
 
Gleichwohl ist das Europäische Parlament im Laufe der Jahre zu einem wichtigen Machtfaktor geworden, der von vielen EU-Bürger:innen unterschätzt wird. Es ist gemeinsam mit den Regierungen der Mitgliedstaaten gleichberechtigter Gesetzgeber in fast allen Schlüssel-Ressorts und wird bei nahezu allen eingangs beschriebenen Herausforderungen die europäische Politik maßgeblich mitgestalten. Es muss die neue Kommission und deren Präsidentin bestätigen, es entscheidet mit über den mehrjährigen EU-Haushalt, muss allen EU-Reformen und Änderungen der europäischen Verträge zustimmen und schließlich Erweiterungen um neue Mitglieder mittragen. Die Mehrheitsverhältnisse und die Debattenkultur des Europaparlaments haben unmittelbar Einfluss darauf, wie geeint und handlungsfähig die EU in den nächsten Jahren sein wird. Je größer der Gegenwind zu den notwendigen Integrationsschritten dort ausfällt, je mehr Polarisierung vom EP ausgeht, desto schwieriger wird es für Europa, seine Grundversprechen von Frieden, Freiheit und Wohlstand auch in Zukunft zu garantieren. 

Das war zwar schon immer so. Aber dieses Mal eben ganz besonders.