Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier diskutiert mit den übrigen Teilnehmer:innen des Forum Bellevue im Großen Saal des Schloss Bellevue. Ben Scott ist online zugeschaltet und auf einem großen Bildschirm im Saal sichtbar. Armin Nassehi und Margrethe Vestager sitzen auf Stühlen neben dem Bundespräsidenten.

Demokratie und digitale Öffentlichkeit – Eine transatlantische Herausforderung

Wie kann der digitale Strukturwandel so gestaltet werden, dass er die demokratische Öffentlichkeit stärkt? Diese und andere Fragen diskutierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim elften "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" mit seinen Gästen.

Auch die Fragen "Was müssen wir tun, damit die Demokratie nicht zum Kollateralschaden des Geschäftsmodells von digitalen Kommunikationsplattformen wird?" und "Ist die Gestaltung und Regulierung des digitalen Strukturwandels eine Chance für die Neubegründung der transatlantischen Partnerschaft?" standen im Mittelpunkt der von uns mitveranstalteten Diskussion.

An ihr nahmen Margrethe Vestager (Exekutiv-Vizepräsidentin der Europäischen Kommission sowie Kommissarin für Wettbewerb und Digitales), Armin Nassehi (Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München) und der US-Amerikaner Ben Scott (Geschäftsführer des Thinktanks „Luminate“) teil. Aufgrund der Pandemie-Lage in Deutschland fand die Diskussion im Großen Saal von Schloss Bellevue erneut ohne Publikum statt.

"Damit Freiheit und Demokratie gewahrt bleiben, braucht es Regeln."

In seiner Rede stellte der Bundespräsident fest, wenn es um die Demokratie gehe, sei "die digitale Revolution beides – Fluch und Segen, Chance und Gefahr zugleich." Das zeigten die von Lügen, Hass und Hetze ausgelöste Erstürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar 2021 auf der einen Seite und die digital vernetzten Demonstrationen für die Demokratie in Russland und Belarus auf der anderen. Insbesondere die Plattformen der sozialen Medien seien inzwischen "Mitarchitekten und Taktgeber unseres demokratischen öffentlichen Raums". Daher müssten Politik und Rechtsstaat sich intensiver um sie und ihre gesellschaftlichen Folgen kümmern.

Die sozialen Medien haben heute den direkten Zugang zu den Menschen, dabei ziele ihr werbefinanziertes Geschäftsmodell mit "eiskalter Präzision" stets darauf ab, möglichst viel Umsatz mit maßgeschneiderter Werbung zu erzeugen. Wenig gälten dabei die Werte, auf denen unsere Demokratie aufbaue. Gleichzeitig unterscheide ein rein gewinnmaximierender Algorithmus nicht zwischen wahren und falschen Aussagen, sondern sei lediglich darauf ausgerichtet, den Einzelnen an den Bildschirm zu fesseln: "Das Geschäft mit der Aufmerksamkeit wird zur Gefahr für die Demokratie", so der Bundespräsident. Bis heute wehrten sich die großen Plattformbetreiber dagegen, Verantwortung für den öffentlichen Raum zu übernehmen.

"Regulierung wurde lange zum Feind erklärt. Das Gegenteil ist der Fall: Damit Freiheit und Demokratie gewahrt bleiben, braucht es Regeln." Und Steinmeier weiter: "Es geht in all diesen Debatten… um nicht weniger als die Demokratisierung des Digitalen." Ob und wie eine solche gemeinsame Agenda der Bestärkung des öffentlichen Raums im Netz gelingen kann, mit dieser Frage eröffnete der Bundespräsident die Diskussion mit seinen Gästen.

Sturm aufs Kapitol war ein Weckruf

EU-Vizepräsidentin Margrethe Vestager pflichtete Bundespräsident Steinmeier bei. Spätestens der Anschlag auf das Kapitol in Washington sei der "Weckruf" gewesen dafür, die Oberhand über die digitalen Plattformen gewinnen zu müssen, um die Demokratie nicht weiter zu gefährden. Wichtig sei es jetzt, einheitliche europäische Regeln anzustreben. Die EU-Kommission sei mit dem Digital Services Act und dem Digital Markets Act bereits gut gerüstet. Gemeinsam mit den USA könnte Europa eine Vorreiterrolle als Bündnis der liberalen Demokratien beim Thema Digitalisierung einnehmen.

Auf die Frage des Bundespräsidenten an Ben Scott, Geschäftsführer des Thinktanks "Luminate", ob die kritische Debatte zu den Big Techs in den USA seit den Ereignissen im Januar Fahrt aufgenommen habe, machte dieser deutlich: Eine Veränderung in der Einstellung zu den digitalen Unternehmen habe es zwar nach dem 6. Januar gegeben, allerdings könne man von raschen, weitreichenden Schritten nicht ausgehen. Die Amerikaner zählten hier inzwischen auf die Expertise und den politischen Willen der Europäer und insbesondere auf Deutschland, wo die Diskussion bereits weit fortgeschritten sei.

Für Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, lautet die Kernfrage, was genau reguliert werden solle, da wir es in den sozialen Medien vorrangig mit Alltagskommunikation zu tun hätten, für die es bislang keine Regulierungsstandards gebe. Das Geschäftsmodell der Plattformanbieter habe sich erst sehr langsam entwickelt: "Wer Hosen produziert oder Brillen, weiß genau, was er produziert", so Nassehi, "nämlich Hosen und Brillen. Hier werden Kommunikationsmöglichkeiten angeboten, man verkauft aber nicht Kommunikationsmöglichkeiten, sondern Daten, Muster, Werbemöglichkeiten und übrigens auch eine Steuerungsmöglichkeit für diese Kommunikation." Da man aufgrund der komplexen Wertschöpfungskette der wenigen Verantwortlichen nicht habhaft werden könne, müsse das gesamte System reguliert werden.

Offline-Welt und Online-Welt sind nicht mehr zu trennen

Von der Vizepräsidentin der Kommission wollte der Bundespräsident wissen, was aus ihrer Perspektive in Bezug auf die digitalen Konzerne zu regulieren sei. Margrethe Vestager dazu: Generell gehe es darum, die Regeln der Offline-Welt auch auf die Online-Welt anzuwenden; beide seien ohnehin nicht mehr zu trennen. Im Fokus des Digital Services Act stünden mehr Sicherheit für die Nutzer, mehr Transparenz der Plattformen und bessere Durchsetzungsmöglichkeiten gegenüber den Betreibern. Der Digital Markets Act richte sich speziell an die sogenannten Gatekeeper und stelle sicher, dass es auf diesen Plattformen fair zugeht.

Die eigentliche Herausforderung sei der Umgang mit Inhalten im Graubereich, dem sogenannten harmful content, so Ben Scott. Die gegenwärtige Rechtslage in den USA lasse es nicht zu, die Plattformanbieter für das Löschen von harmful content verantwortlich zu machen. Gleichzeitig ermöglichten aber erst die Gesetzmäßigkeiten der Plattformen die exponentielle Verbreitung demokratiegefährdender Inhalte. Vor dem Hintergrund der Ereignisse um den 6. Januar werde zunehmend darüber diskutiert, ob nicht nur die Absender von harmful content, sondern auch die digitalen Konzerne zur Verantwortung zu ziehen seien – auch wenn es in der US-amerikanischen Politik dazu bislang keine klare Strategie gebe.

Ein Beispiel für einen Graubereich lieferte der Bundespräsident, der darauf hinwies, dass auf den Plattformen im Umfeld des 6. Januar Werbung für Kampfausrüstungen geschaltet worden war. Die Werbung als solche sei in den USA legal, der Graubereich entstehe im Zusammenspiel mit den Aufrufen zur Demonstration. Wahrscheinlich sei es nur ein Algorithmus gewesen, der diese Verknüpfung erzeugt habe, so Scott. Umso wichtiger sei es, hier anzuknüpfen und die digitalen Unternehmen in diesen Fragen zur Auskunft zu verpflichten. Auch die Autoindustrie müsse zu den Abgaswerten von Autos Auskunft geben, ebenso wie die Pharmaindustrie, die dazu verpflichtet sei, die Nebenwirkungen von Medikamenten anzugeben.

Der Bundespräsident schloss die Diskussion mit der Hoffnung, dass in der gemeinsamen Gestaltung der digitalen Öffentlichkeit ein entscheidendes Feld der transatlantischen Zusammenarbeit der Zukunft liege.