Aart De Geus vor einer grauen Wand mit Graffitti.

"Es gilt, viele Mauern abzubauen!"

Es waren unvergessliche Bilder: Menschen lagen sich weinend in den Armen, als vor 30 Jahren die Berliner Mauer fiel. Was ist von dieser Sektlaune übrig geblieben? Wo sind Ost und West zusammen gewachsen, wo gibt es neue Spaltungen? Unser Vorstandsvorsitzender Aart De Geus zieht Bilanz.

"Die Mauer muss weg!" Das war eine der prägenden Parolen der Demonstranten, die vor 30 Jahren in der damaligen DDR auf die Straße gingen. Sie kämpften damit nicht nur gegen das steingewordene Bollwerk des Kommunismus, das Ost und West gerade in Berlin so brachial trennte, sondern auch gegen unsichtbare Mauern. Meinungs- und Redefreiheit oder freie Wahlen, all diese für uns selbstverständlichen Rechte waren einem Teil der Deutschen damals verwehrt.

Dass der Mauerfall und die folgende Wiedervereinigung in Deutschland so friedlich verlaufen sind, ist ein einzigartiger Glücksfall für die deutsche und europäische Geschichte. Das zeigt allein ein Blick auf die internationale Karte: Während 1989 in Peking als Antwort auf die Studentenproteste Panzer rollten, wurden die Berliner Grenzposten in der Nacht des 9. November von einer friedlichen Welle der Euphorie und des Freiheitswillens überrannt. Wenig später sah die verblüffte Weltgemeinschaft, wie am Brandenburger Tor Ost- und Westdeutsche auf eine gemeinsame Zukunft anstießen. 30 Jahre später stellt sich die Frage, ob von der Sektlaune noch etwas übrig ist. Die Antwort darauf ist vielfältig und hängt auch davon ab, welche Brille wir als Chronisten aufsetzen.

Deutschland: Vom Außenposten zum Zentrum Europas

Blicken wir als Europäer auf die Geschichte, kann das Urteil fast nur positiv ausfallen. Mit dem Ende der innerdeutschen Mauer fiel auch der Eiserne Vorhang. Die Wiedervereinigung war in diesem Sinne die erste Osterweiterung der EU. Deutschland, bis dahin ein Außenposten in der Geografie des Kalten Krieges, rückte plötzlich ins Zentrum eines vereinten demokratischen Europas. Der größte Binnenmarkt der Welt? Eine einheitliche Währung in Deutschland, Estland und der Slowakei? Ohne den Mauerfall nicht denkbar. Aber es erwuchsen auch neue Herausforderungen. Die Sorge, dass Berlin in Europa allein den Ton angibt, brandet immer wieder auf. Andererseits fordern einige Partner, dass Deutschland international noch viel entschlossener auftreten sollte. So wird dieses geeinte Deutschland in der EU mal bewundert, mal gefürchtet. Gemieden werden kann es aber nicht.

Bei einem Blick auf die politische Landkarte Deutschlands fällt zunächst eine unsichtbare Mauer auf.

Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung

Bei einem Blick auf die politische Landkarte Deutschlands fällt zunächst eine unsichtbare Mauer auf. Es wird bei den Erfolgen der AfD häufig zu stark auf die neuen Bundesländer geschaut. Ist dies ein Erbe des Mauerfalls? Nur bedingt, denn die wesentliche Konfliktlinie unserer Demokratie ist heutzutage ein diagonaler Bruch, der nicht zwischen Ost und West verläuft, sondern durch die Mitte der Gesellschaft geht. Die Wähler lassen sich, vereinfacht gesagt, in Modernisierungsskeptiker und -befürworter aufteilen. Die Akzeptanz für Demokratie bleibt aber in ganz Deutschland ungebrochen: Neun von zehn Wahlberechtigten halten die Demokratie für das beste politische System. Doch wie genau soll sie ausgestaltet sein und funktionieren? Darüber müssen wir uns verständigen und uns klarmachen, wofür wir sind – und nicht nur wogegen.

Gemeinsamkeiten suchen statt Barrieren bauen

Schauen wir zuletzt als Ökonomen auf die Entwicklung, stoßen wir oft auf ein viel bemühtes Zitat des "Einheitskanzlers": Helmut Kohls Versprechen von "blühenden Landschaften" hat sich in ungewollter Weise erfüllt. Zwischen Ostsee und Erzgebirge ist wieder viel unberührte Natur zu erleben. Dafür sind Arbeitsplätze und Einwohnerzahlen teilweise drastisch zurückgegangen. Westdeutschland hat heute 60 Prozent mehr Einwohner als vor dem Zweiten Weltkrieg. Ostdeutschland hingegen zählt 15 Prozent weniger und liegt damit auf dem Stand von 1905. Darunter leiden auch Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Doch die neuen Bundesländer holen langsam auf. Die zehn Regionen mit dem höchsten Zuwachs der Arbeitsproduktivität zwischen 2000 und 2017 liegen mehrheitlich in Ostdeutschland.

So bleibt als wichtigstes Fazit: Die Mauer ist weg. Gut so! Denn in einem Moment der Weltgeschichte, in dem erneut Zäune vor Menschen und Handelsbarrieren vor wirtschaftlichem Wettbewerb schützen sollen, müssen wir uns darauf besinnen, wie wir gemeinsam etwas bewegen können. Deutschland und Europa sind der beste Beweis, dass es sich lohnt, Mauern einzureißen. Das verdeutlicht auch ein Stück bunt bemalter Beton mitten in Berlin: die berühmte East Side Gallery am ehemaligen Mauerstreifen. Das einstige Beton-Bollwerk hat sich hier zu einem Freiluftmuseum gewandelt, wo Künstler aus aller Welt auf steinerne Leinwände gemalt, gesprüht und geschrieben haben. Es lohnt sich, kurz innezuhalten: "Es gilt, viele Mauern abzubauen" steht dort. Eine Forderung, die aktueller nicht sein könnte.

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