Frau Reding, wie nehmen Sie die Entwicklungen in Ungarn, Polen, aber auch Rumänien wahr, wo zunehmend die Unabhängigkeit der Justiz verloren zu gehen scheint, die Pressefreiheit systematisch eingeschränkt wird und zivilgesellschaftliche Organisationen unter Druck geraten?
Viviane Reding: Gerichte wurden lahmgelegt, die öffentliche und private Presse wurde mundtot gemacht, Flüchtlingen wurde die Solidarität verweigert, NGOs wurden diskreditiert und als "ausländische Agenten" gebrandmarkt, Universitäten wurden zum Schweigen gebracht und Brüssel wurde dämonisiert. Der nicht enden wollende Strom von Berichten aus Polen und Ungarn lässt keinen Raum für Illusionen: Unsere Grundwerte werden angegriffen.
Das ist keine Nebensache, sondern ein dringlicher Anlass zur Sorge für alle Europäerinnen und Europäer. Es ist ganz einfach eine Frage der Glaubwürdigkeit. Die EU kann nicht die Werte der Solidarität, der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit weltweit – beispielsweise in der Türkei – anpreisen, während sie selbst nicht dazu in der Lage ist, diese Werte zu Hause durchzusetzen. Diese Werte sind unser Kompass, sie leiten unser gemeinsames Handeln. Mitgliedstaaten, die diese Werte systematisch missachten, zerstören diesen Kompass. Sie drohen, unsere Union ihrer Seele zu berauben und sie aus den Fugen geraten zu lassen – sie zu einer leichten Beute für die Geier zu machen, die bestrebt sind, eines der bedeutendsten politischen Konstrukte aller Zeiten zu Fall zu bringen. Ohne den Kompass unserer Werte ist Europa richtungslos. Ohne das Gerüst unserer Werte wird sich das Gefüge unserer Einheit auflösen. Nichts weniger als unsere gemeinsame Zukunft steht auf dem Spiel. Und wir sollten handeln – klar und entschieden.