Eine Weltkarte, die jemand mit Zeichnungen und handschriftlichen Ergänzungen versehen hat.

Der Globalisierungsmotor gerät ins Stocken

Grenzöffnungen, Abbau von Zollschranken, Kommunikation über den Erdball in Echtzeit – die Globalisierung kannte bisher nur eine Stoßrichtung: größer, schneller, weiter. Doch die Verflechtung der Staatengemeinschaft geht seit 2007 zurück. Der neue Globalisierungsreport zeigt, wie sich dies auf die Pro-Kopf-Einkommen in den Industrie- und Schwellenländern auswirkt.

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Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat zu einem Globalisierungsrückschritt geführt. Seit 2007 geht die durch einen Index gemessene Globalisierung zum ersten Mal im Beobachtungszeitraum (1990-2014) flächendeckend zurück – und zwar in 35 von 42 Ländern. Trotz dieser Entwicklung gehört Deutschland zu den Gewinnern der Globalisierung: Es erzielt zusammen mit weiteren Industrieländern, wie etwa Japan, der Schweiz, Finnland und Dänemark, immer noch die höchsten globalisierungsbedingten Zuwächse beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Das sind die zentralen Ergebnisse des Globalisierungsreports 2016 der Prognos AG, der im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt wurde. In 42 Industrie- und Schwellenländern wurde untersucht, wie groß die Wohlstandsgewinne aufgrund der voranschreitenden Globalisierung ausfallen.

Der Grad der internationalen Verflechtung wird im Globalisierungsreport mit einem Index berechnet, der sich eng an den KOF-Globalisierungsindex der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich anlehnt. Dabei gilt die Faustformel: Je höher der Index, desto stärker ist das jeweilige Land mit den anderen Ländern der Welt verflochten. Zwischen 1990 und 2007 legte der Indexwert für die 42 Länder deutlich von durchschnittlich 46,4 Punkten auf 65,1 Punkte zu. Im Anschluss war er hingegen rückläufig und zeigt seit 2011 eine stagnierende Entwicklung. Im Jahr 2014 lag der Index bei durchschnittlich 62,6 Punkten.

Damit werden auch die jährlichen globalisierungsbedingten Wohlstandsgewinne kleiner. Während das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1990 bis 2011 – dem Beobachtungszeitraum der Vorgängerstudie – durch Globalisierungseffekte durchschnittlich um rund 610 Euro pro Kopf und Jahr wuchs, waren es im erweiterten Zeitraum bis 2014 nur noch rund 580 Euro pro Kopf.

Trotzdem ist die Gesamtbilanz positiv: Im Untersuchungszeitraum wuchs das BIP aufgrund der voranschreitenden Globalisierung in der Gesamtheit aller 42 untersuchten Länder im Schnitt um fast 970 Milliarden Euro pro Jahr. Dies entspricht in etwa der Wirtschaftsleistung einer mittelgroßen Volkswirtschaft wie Spanien oder Südkorea.

"Protektionismus ist keine überzeugende Antwort auf die Finanzkrise. Wir brauchen neue Impulse für Wachstum und internationale Verflechtung, um Wohlstandsgewinne für Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer zu sichern."

Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung

Wohlhabende Industrieländer sind Globalisierungsgewinner

Auch bei der Exportnation Deutschland haben die internationalen Krisen der letzten Jahre Spuren hinterlassen. Bereits seit 2003 sinkt der Globalisierungsgrad für Deutschland von damals 73 auf 65,7 Punkte im Jahr 2014. Dennoch gehört Deutschland zu den zehn Staaten, die am stärksten von der Globalisierung profitieren. Pro Jahr hat die voranschreitende Globalisierung das BIP seit 1990 durchschnittlich um 1.130 Euro pro Kopf erhöht. "Deutschland profitiert wie kaum ein anderer Staat von der Vernetzung und zeigt, dass Globalisierung nicht zu einem Wettrennen um die billigsten Arbeitsplätze verkommen muss. Deutschland sollte deshalb als gutes Beispiel vorangehen, um für ein weiteres Zusammenwachsen zu werben", so Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung.

Im internationalen Vergleich haben wohlhabende Industriestaaten am meisten von der Globalisierung profitiert. Bei dem Spitzenreiter Japan wuchs das BIP pro Einwohner globalisierungsbedingt durchschnittlich um 1.470 Euro pro Jahr. Die Gründe dafür sehen die Autoren vor allem in gestiegenen japanischen Direktinvestitionen im Ausland und einem erhöhten Außenhandel im Dienstleistungsbereich. In der Schweiz, Finnland und Dänemark waren die Zuwächse mit 1.210 bis 1.360 Euro ähnlich hoch.

Schwellenländer bilden das Schlusslicht

Am geringsten sind die globalisierungsbedingten Gewinne in den sogenannten BRIC-Staaten. Brasilien, Russland, China und Schlusslicht Indien konnten gemessen am BIP insgesamt zwar von der Globalisierung profitieren, aber in deutlich geringerem Maße als die Industriestaaten. Die Zuwächse schwanken hier zwischen 120 Euro durchschnittlichem BIP-Zuwachs pro Kopf und Jahr (Brasilien) und 20 Euro (Indien). Laut Thieß Petersen, Wirtschaftsexperte der Bertelsmann Stiftung, liegt das schlechte Abschneiden der Schwellenländer zum Teil an bestehenden Handelsrestriktionen, aber auch an den makroökonomischen Voraussetzungen: "Je niedriger das Ausgangsniveau des BIP, desto geringer fallen auch die absoluten Zuwächse aus. Außerdem gilt: Je später die Globalisierung in einem Land eingesetzt hat, desto kürzer ist auch der Zeitraum, um mögliche Globalisierungsgewinne zu realisieren", so Petersen.

Um die ins Stocken geratene Globalisierung wieder anzukurbeln, empfehlen die Experten der Bertelsmann Stiftung, die Schwellen- und Entwicklungsländer besser in die Weltwirtschaft zu integrieren. Gerade diese Länder haben noch große Potenziale, mithilfe verstärkter Globalisierung auch höheres Wachstum zu erzielen. Dafür ist es wichtig, dass die Industriestaaten ihre Märkte für Produkte aus weniger entwickelten Ländern öffnen und ihre Subventionen für landwirtschaftliche Produkte zurückfahren. Außerdem sollten sie Schwellenländern Möglichkeiten anbieten, die notwendige Infrastruktur, Bildungsmaßnahmen und Produktionsanlagen zu finanzieren.