Der drohende Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union, der "Brexit", wird neben der Flüchtlingskrise die Debatte des kommenden EU-Gipfels dominieren. Niemand sollte sich Illusionen machen: Wirtschaftlich hätte ein Brexit nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung nur Verlierer, er würde Europa in einer globalen Welt weiter schwächen und würde Großbritannien mit einer sehr wahrscheinlich folgenden Abspaltung Schottlands zu "Little Britain" machen. Auch Deutschland würde verlieren, hätten wir doch einen wichtigen Verbündeten in Europa für die Vertiefung des Binnenmarkts, offenen Welthandel und Haushaltskonsolidierung weniger.
Die von EU-Ratspräsident Tusk nun präsentierten Reformvorschläge greifen die Forderungen Camerons auf, lassen die entscheidenden Details aber noch ungeklärt – die wirklichen heißen Verhandlungen beginnen erst jetzt und erfordern strategischen Weitblick. Camerons Forderungen mögen lästig und angesichts der aktuellen Krisen unpassend erscheinen. Aber nutzen wir seinen Anstoß für eine pragmatische Debatte über Europas Zukunft und um die Akzeptanz Europas bei den Bürgern zu stärken.
Mit seinen Forderungen nach mehr Wettbewerbsfähigkeit ruft Cameron nur zu dem auf, was sich Europa schon lange auf die eigenen Fahnen schreibt, nur leider kaum umsetzt. Die Brexit-Dynamik sollte für eine neue Wettbewerbsdynamik genutzt werden.
Mit seinen Sorgen um Immigration und Missbrauch von Sozialleistungen trifft Cameron einen wunden Punkt fast aller Mitgliedstaaten. Die nun vorgeschlagene "Notbremse" könnte ein Instrument sein, das sich nicht nur die Briten wünschen. Alle Europäer sollen weiter frei reisen und überall in der EU gleichberechtigt arbeiten können. Aber zugleich muss das Phänomen des Sozialtourismus angegangen werden.
Camerons Forderungen sollten beim EU-Gipfel also nicht auf grundsätzliches Unverständnis oder kategorische Ablehnung treffen. Es sind nicht nur die Briten, die sich mit mehr und mehr Europa immer weniger und weniger identifizieren. Sie wollen verstanden, nicht belehrt werden. Die Europäer müssen sich vom Zwang der immer weiteren Integration aller befreien und sich auf eine Vertiefung durch einige und nach Bedarf einlassen – ein Europa mit vielen verschiedenen Geschwindigkeiten und mehreren Ebenen, ein "Multi-track-Europa", das einem Europa der Vielfalt nicht entgegensteht. Wir müssen der aktuellen Stagnation durch Pragmatismus begegnen. Das Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit existiert bereits und sollte stärker benutzt werden. Das gilt für Fragen der Währungsunion ebenso wie für Grenzkontrollen.
Aktuelle Umfragen der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass die Bürger – auch in Großbritannien – die Idee eines geeinten Europas weiter hoch halten und von der EU mehr Sicherheit und mehr Wohlstand erwarten. Die Menschen wollen ein starkes Europa, nicht eines, das auseinanderbricht. Dieser Wunsch der Bürger sollte die europäischen Regierungschefs beim Gipfel leiten.
Dieser Text erschien als Gastkommentar im "Handelsblatt".