Erinnern wir uns. August 2015: Wir sehen Bilder, die Hollywood nicht besser hätte inszenieren können. Flüchtlinge aus aller Herren Länder kommen in Deutschland an und werden bejubelt. Es wird geholfen, es wird angepackt, es wird einfach gemacht. Nur ein halbes Jahr später ist die Stimmung gekippt. Es wird gestritten, geschimpft, gepöbelt. Deutschland kommt an seine Grenzen. Und während die einen streiten, helfen die anderen einfach weiter. Mir gefiel dieses Deutschland, das in der ganzen Welt Anerkennung fand. Wo immer ich im Ausland war, alle waren voll des Lobes. Nur sechs Monate später sieht die Welt ein verwirrtes, hilfloses, keifendes, zerstrittenes Land.
"Wahrheit braucht Zeit"
Die Stimmung in der anfangs hoch gelobten "Willkommenskultur" gerät aus dem Lot. Sündenböcke, schnelle Halbinformationen, Schönreden von Problemen – da ist es Zeit zum Innehalten. Ein Gastbeitrag von ZDF-Moderatorin Dunja Hayali für change.
Wir brauchen einen Reality-Check. Wir brauchen die Wahrheit. Denn ohne die kann weder Willkommenskultur noch Integration gelingen. Dabei helfen uns weder Dramatisierung noch Verharmlosung weiter. Währenddessen versuchen Politiker Polemik mit Polemik zu bekämpfen. Populismus mit Populismus. Im Ergebnis wird die Verunsicherung bei der Bevölkerung größer, und Befindlichkeiten, Gerüchte und urbane Legenden werden zu Argumenten, deren realer Wahrheitsgehalt oftmals zweifelhaft ist.
Angeblich zögern viele Deutsche, ihre Sorgen und ihre Kritik öffentlich zu äußern, weil sie dann „in die rechte Ecke gestellt“ würden. Ich hatte noch nie den Eindruck, sachliche, mit Fakten fundierte Kritik sei nicht möglich. Vielmehr scheint mir, dass gerade die, die mit Angst- und Panikmache operieren, gereizt auf Gegenargumente reagieren, auch wenn diese überlegt und besonnen daherkommen. Um es ganz klar zu sagen: Kritik an der Asylpolitik, Ängste und Sorgen müssen offen zum Ausdruck gebracht werden dürfen.
Hetze gegen eine religiöse Minderheit, die als Sündenbock für alles herhalten soll, geht genauso wenig wie etwaiges Schönreden von Problemen. Weder bei Bürgern noch bei Politikern noch bei Polizisten. Und schon gar nicht unter Journalisten.
Es wird nun viel von Vertuschung geredet. Es würden Dinge unter den Teppich gekehrt. Als Journalist möchte man allerdings genau das Gegenteil. Aufdecken, den Finger in die Wunde legen, Fakten liefern, anhand derer man Veränderungen diskutieren kann. Doch dazu braucht es auch Zeit und Recherche. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sieht „eine Entfesselung des Bestätigungsdenkens, eine Instrumentalisierung des Geschehens für das eigene Weltbild und eine Sinnproduktion unter Hochgeschwindigkeitsbedingungen“ (Quelle: Tagesspiegel).
Ich kann das Verlangen nach Informationen verstehen. Alles soll schnell gehen, der Ruf nach dem Was, Wer, Wann, Warum will gestillt werden. Es ist schwer, Ungewissheiten auszuhalten. Ich wünsche mir auch nach jedem großen Ereignis sofort ein ausführliches „Spezial“ mit allen Antworten. Aber wie soll man es füllen, wenn man noch gar nichts weiß? Ich kann nicht mal eben 140 Zeichen in die Welt posaunen und, wenn es nicht stimmt, so tun, als sei nichts gewesen. „Die emotionale Sofortdeutung erschlägt das Warten auf belastbare Faktizität“, sagt Pörksen.
So schwer es fällt, gerade nach den Vorfällen zu Silvester in Köln, über das Thema Asyl und Zuwanderung differenziert, sachlich, unemotional und unideologisch zu diskutieren, so müssen wir es doch versuchen. Dabei müssen wir differenzieren und dürfen Dinge nicht aus dem Zusammenhang reißen. Dabei müssen wir auch über unsere viel zitierten Werte und unsere Moralvorstellungen sprechen – auch mit den Neuankömmlingen. Aber vor allen Dingen mit Respekt voreinander und untereinander. Zivilisiert. Ein Anspruch, der sich im konkreten Sprachgebrauch der Kritiker der Flüchtlingspolitik, aber auch bei einigen Verteidigern aufgelöst hat. Die schrille Häufung von schnellen Halbinformationen erzeugt eine hektische Kakophonie der Meinungen, die nicht der notwendigen Sachlichkeit der so wichtigen Debatte dient.
Es geht um Syrer, Iraker, Afghanen, Pakistani, Bangladescher, Algerier, Marokkaner, Tunesier, Sudanesen, etc. etc., es geht um verschiedenste Regionen der Welt, um unterschiedliche politische Systeme, sich unterscheidende religiöse Ausrichtungen. Es handelt sich um Menschen, die auf der Flucht sind wegen ihres Wohnortes, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer politischen Ansichten, ihrer religiösen Praxis, ihrer sexuellen Ausrichtung oder auch ihrer enormen Armut wegen zu uns kommen. Diese Menschen kommen, weil sie um ihr Leben fürchten, weil sie Freiheit suchen, Sicherheit suchen, weil sie ohne Angst vor Armut, Verfolgung, Gefängnis oder Tod ein menschenwürdiges Leben wollen. Das sind viele unterschiedliche Gründe, Faktoren, Hintergründe und Argumente. Und das spiegelt sich in der Diskussion so leider derzeit wenig bis kaum wider.
Wir reden über Flüchtlinge, Asylanten, Verfolgte, Migranten, Schutzsuchende, Wirtschaftsflüchtlinge, Trittbrettfahrer, Islamisten, Straftäter, Terroristen. Über Herkunftsländer, Fluchtrouten, Fluchtgründe, Asylberechtigung. Alles durcheinander. Alles gleichzeitig. Wer blickt da noch durch? Wer weiß da wirklich Bescheid? Angesichts der offensichtlichen Komplexität der Dinge gibt es aber erstaunlich viele, enorm viele Einlassungen. Aber wie viele harte Fakten gibt es eigentlich? Haltbare, belastbare, nachprüfbare Informationen, die auch übermorgen noch Bestand haben?
Einigkeit ist nirgendwo
Vielleicht sollten wir alle mal einen Tag lang innehalten. Zum Nachdenken. Wie kann es zum Beispiel sein, dass vieles, was vor Köln gut war, gut lief, nun schlecht sein soll? Wir springen immer nur über das nächste Stöckchen. Aber haben wir eigentlich alle verfügbaren Informationen schon zur Kenntnis genommen, berücksichtigt, reflektiert, analysiert, ausgewertet? Ein Tag Ruhe. Bevor das Karussell sich weiterdreht. Denn: Ob Armin Laschet oder Julia Klöckner bei der CDU, Thomas Oppermann oder Johanna Uekermann bei der SPD, Boris Palmer oder
Simone Peters bei den Grünen, Sahra Wagenknecht oder Dietmar Bartsch bei der Linken, Einigkeit zum Thema ist nirgendwo. Ähnlich sieht es bei fast allen großen deutschen Tageszeitungen aus, nahezu keine Redaktion scheint einig, wenn es um den Flüchtlingsstrom nach Deutschland und den richtigen Umgang damit geht. Und in der Bevölkerung, auf den Straßen, bei Facebook und Twitter, in den Foren, Chats, Gästebüchern ist das Meinungsbild noch vielstimmiger, hektischer, wirrer, zerrissener und zum Teil voller Hass.
Nicht, dass wir uns alle immer gleich einig sein müssen. Natürlich muss man andere Argumente und Meinungen aushalten können. Ohne sein Gegenüber zu diffamieren. Und auch eingestehen können, dass man nicht sofort auf alles eine Antwort hat. Wir müssen um Wege, Argumente, Lösungen, Kompromisse ringen. Aber am Ende braucht eine Demokratie Konsens. Nicht Dissonanz an allen Ecken und Enden. Wahrheit braucht Zeit. Wir sollten sie uns nehmen.