Ein Panorama-Blick auf Rio de Janeiro: Im Hintergrund ist der Zuckerhut zu sehen, im Vordergrund die Häuser der Stadt, unter anderem eine Armensiedlung.

Politisches Doping: Brasilien am Vorabend der Olympischen Spiele

Bei der Korruptionsbekämpfung ist kaum ein in unserem Transformationsindex BTI notiertes Land so konsequent wie Brasilien. Diese Entschiedenheit braucht die Justiz des Olympia-Gastgeberlandes auch: Schmiergeldskandale haben Brasiliens Politik in jüngster Zeit erschüttert und auch zur Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff beigetragen. Eine Analyse. 

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Text von Hauke Hartmann. Der Autor ist Senior Expert in unserem Projekt "Transformationsindex BTI".

Was das Doping für den internationalen Leistungssport, ist die allgegenwärtige Korruption in der brasilianischen Wirtschaft und Politik – ohne sie sind bestimmte Erfolge kaum zu erlangen. Keine Mehrheitsbeschaffung in einem zersplitterten Parlament mit mehr als 30 Parteien, keine Baukontrakte, Schürfrechte oder Abholzungsgenehmigungen, keine Finanzierung von Parteiapparaten und Wahlkämpfen. Korruption schmierte das politische System im größten lateinamerikanischen Land schon immer.

Dann aber geschah etwas für brasilianische Verhältnisse Unglaubliches: eine Gruppe von jungen, engagierten Strafverfolgern deckte einen hochrangigen Korruptionsfall nach dem anderen auf. Da waren als erster großer Fall die monatlichen Schmiergeldzahlungen an Abgeordnete (Mensalão) im vergangenen Jahrzehnt, maßgeblich betrieben durch die damals unter Präsident Lula da Silva regierende Arbeiterpartei (PT). Die Verurteilung von Lulas Kabinettschef José Dirceu und fast 40 weiteren hochrangigen Politikern und einflussreichen Unternehmern im November 2012 markierte einen Wendepunkt in der Ahndung von Korruption und Amtsmissbrauch und verlieh der Versicherung, dass unabhängig von Rang und Titeln aufgeklärt werden solle, Glaubwürdigkeit.

Die größte Bombe aber war der Petrolão, ein gigantischer Schmiergeldskandal um das halbstaatliche Mineralölunternehmen Petrobras, in dessen Rahmen mehrere Milliarden Euro an Bestechungsgeldern gezahlt worden sein sollen. Jahrelang wurden offenbar bei Öl- und Baugeschäften routinemäßig drei Prozent der jeweiligen Vertragssumme abgezweigt, im Ausland gewaschen und an Spitzenpolitiker aller Parteien ausgeschüttet. Seit über zwei Jahren ermitteln Antikorruptionsbeamte und Staatsanwälte im Rahmen der Operation Lava Jato (Autowäsche) mit zunehmendem Erfolg gegen dieses parteiübergreifende Korruptionsnetzwerk.

Gute Bilanz bei Korruptionsbekämpfung

Die Erfolge der Ermittler sind aber nicht alleine auf hohes Engagement oder bessere Ausstattung zurückzuführen. Ihr Kampf gegen die Korruption war politisch gewollt. Antikorruptionspolitik war einer der Wahlkampfschwerpunkte von Dilma Rousseff, der Nachfolgerin Lulas im Präsidentenamt, und ein beherrschendes Thema ihrer Amtsjahre. Sie zögerte nicht, mehrere Minister schon wenige Monate nach Amtsantritt 2011 wegen Korruptionsvorwürfen zu entlassen, unter anderem Sportminister Orlando Silva. Und die Regierungen Lula und Rousseff ermutigten Gesetzesinitiativen von unten: mehr als eine Million Unterschriften wurden für das Saubere-Weste-Gesetz (Lei da Ficha Limpa) gesammelt, das das Parlament noch im letzten Amtsjahr Lulas verabschiedete und das auf nationaler wie einzelstaatlicher Ebene der Korruption überführten Politikern die Bewerbung um ein öffentliches Amt für acht Jahre untersagt – mehr als 1.000 Politiker mussten daraufhin 2012 ihre Kandidatur bei den Kommunalwahlen zurückziehen.

Kaum ein Land hat sich laut Transformationsindex BTI in den letzten zehn Jahren hinsichtlich der Ahndung von Amtsmissbrauch so stark verbessert wie Brasilien. Im BTI 2006 noch mit 6 von 10 Punkten bewertet, erzielt das Land heute 8 Punkte und zählt zur übersichtlichen Spitzengruppe von gerade einmal 14 von 129 Entwicklungs- und Transformationsländern, in denen kriminelle oder korrupte Amtsinhaber im Regelfall strafrechtlich verfolgt werden. Kurz nach Amtsantritt brachte die Regierung Rousseff ein Informationsfreiheitsgesetz auf den Weg, verschärfte die Regelungen zur Bekämpfung von Geldwäsche und veröffentlichte die Gehälter von rund 700.000 Staatsbediensteten online auf einem "Transparenzportal".

Eine ähnlich gute Bewertung erzielt die Regierung Rousseff für ihre Antikorruptionspolitik. Hier bewertet der BTI 2016 das Funktionieren der Integritätsmechanismen und die Umsetzungsfähigkeit der Regierung mit 7 von 10 Punkten – nur 11 von 129 Ländern weisen ein besseres Resultat auf. Alle rechtlichen Rahmenbedingungen für eine effektive Korruptionsbekämpfung wurden eingerichtet, aber entscheidend war die politische Rückendeckung. Die technisch besser ausgerüsteten und finanziell besser ausgestatteten Strafverfolgungsbehörden wussten, dass sie für ihre Ermittlungen die Rückendeckung von ganz oben hatten und gingen gegen die höchste Ebene von Politikern und Unternehmern vor, die früher als sakrosankt gegolten hatten.

Dilma Rousseff spricht am 31. März 2016 bei einem Empfang für Intellektuelle und Künstler, die sich gegen ihre Amtsenthebung als Präsidentin wandten. (Foto: Antonio Cruz / Agência Brasil / Wikimedia Commons - CC BY 3.0 BR, https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/br/deed.pt)

"Die größte Bananenrepublik auf der Erde"

Jetzt aber wurde es einsam um Dilma Rousseff. Selbst engen Parteifreunden ging die Antikorruptionspolitik zu weit, die früher noch mit Schmiergeldzahlungen zusammengehaltene Koalition der Arbeiterpartei im Parlament bröckelte, und Rousseffs politische Gestaltungsfähigkeit litt an der Schwierigkeit, Gesetzesinitiativen und Reformvorhaben durch ein zunehmend feindliches Parlament zu bekommen. Inmitten einer durch einbrechende Rohstoffpreise ausgelösten Wirtschaftskrise fehlte es ihr an überzeugenden Konzepten, und sie agierte zunehmend glücklos und mit geringer persönlicher Ausstrahlung. Um in Zeiten der Krise die umfangreichen Sozialprogramme nicht antasten zu müssen (die Millionen von Brasilianern aus der Armut geführt und den Binnenmarkt gestärkt hatten) und um politisch besser dazustehen, ließ sie den Haushalt irreführend berechnen, schönte also ihre Bilanzen. Und dieses politische Fehlverhalten, das allerdings schon zum Standardrepertoire vieler Präsidenten vor ihr gezählt hatte, nutzte die Opposition zur Eröffnung eines umstrittenen Amtsenthebungsverfahrens.

Viel ist in Brasilien und überall in Lateinamerikadiskutiert worden, ob es sich beim Verfahren gegen die Präsidentin – die derzeit zur Klärung der Vorwürfe bis Oktober 2016 vom Amt suspendiert ist – um einen Staatsstreich handelt, da so offensichtlich ein Bagatellvergehen zur Erhebung der Anklage herangezogen wurde. Auch wenn nur schwer vorstellbar ist, dass Rousseff von den schweren Korruptionsvergehen nichts gewusst haben soll, so ist ihre politische Mitverantwortung kein hinreichender Grund für eine Amtsenthebung. Der suspendierten Präsidentin konnte bislang keine Beteiligung oder Bereicherung nachgewiesen werden, sie wird in allen Berichterstattungen übereinstimmend als persönlich integer bezeichnet und es ist eher anzunehmen, dass sie eine treibende Kraft bei der Aufdeckung der Skandale gewesen ist. Viele Beobachter teilen deswegen die Empörung des brasilianischen Generalstaatsanwalts, der im Rahmen der Senatsabstimmung anmerkte, das Amtsenthebungsverfahren mache das Land "zur größten Bananenrepublik auf der Erde."

Der brasilianische Vizepräsident Michel Temer (links) spricht während einer Sitzung der Abgeordnetenkammer am 8. Juli 2015 mit dem damaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha. (Foto: PMDB Nacional / Flickr - CC BY 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Eine Verschwörung erscheint naheliegend

Diese Empörung speist sich insbesondere aus der Doppelmoral und mangelnden Integrität der Anklagebetreiber selber. Eduardo Cunha, der als Präsident der Abgeordnetenkammer maßgeblicher Initiator des Impeachment war, wurde mittlerweile wegen Korruptionsverdacht, Geldwäsche und Verschleierungsversuchen selber von seinem Amt freigestellt. Vizepräsident Michel Temer, der interimistisch Rousseffs Amtsgeschäfte übernommen hat, könnte selber nie zum Präsidenten gewählt werden, weil ihm wegen betrügerischer Wahlkampffinanzierung für acht Jahre das passive Wahlrecht aberkannt worden ist. Die brasilianische Sektion von Transparency International machte bekannt, dass gegen 60 Prozent der Senatoren Verfahren wegen Amtsmissbrauch und Korruption anhängig sind, ähnlich sieht es im Abgeordnetenhaus aus.

So lag der Verdacht nahe, das Verfahren gegen Rousseff sei gerade deshalb angestrengt worden, um den Ermittlungseifer der Behörden zu bremsen. Was anfänglich noch wie eine Verschwörungstheorie wirkte, erhärtet sich nun mehr und mehr. Ende Mai druckte die Tageszeitung Folha de Sao Paulo Auszüge aus dem Handymitschnitt eines Gesprächs ab, das ein korrupter Ölmanager (für den offenbar eine Kronzeugenregelung gilt) mit  Planungsminister Romero Jucá (einem wichtigen Vertrauten von Übergangspräsident Temer) kurz vor Rousseffs Amtsenthebung führte. Darin schlug der Politiker einen Pakt zur Absetzung der Präsidentin vor, in den auch führende Generäle eingeweiht seien, um die Strafverfolgung zahlreicher korrupter Politiker und Unternehmer zu beenden. Kurz darauf veröffentlichte der Sender TV Globo Aufnahmen eines Gesprächs zwischen dem für Korruptionsverfolgung zuständigen Transparenzminister Fabiano Silveira und Senatspräsident Renan Calheiros, in dessen Verlauf Silveira die Korruptionsverfahren bedauerte. Offenbar hatte er sich ohne Erfolg bei den Ermittlungsbehörden um Informationen zum Stand des Verfahrens gegen den Senatspräsidenten bemüht. Beide Minister sind mittlerweilezurückgetreten, gegen Calheiros, Cunha und Jucá wurde Haftbefehl beantragt.

In der Zwischenzeit kürzt die konservative "Regierung der nationalen Rettung" nicht nur die Sozialprogramme, treibt Privatisierungen voran und will Umweltschutzauflagen aushöhlen, die korruptionsgeschüttelte und zutiefst diskreditierte Staatsspitze bereitet sich auf die Olympischen Spiele vor, die von Interimspräsident Temer eröffnet werden. Sollte er bei den Feierlichkeiten ausgepfiffen werden – die Brasilianer hätten allen Grund dazu.