Text von Anna Butterbrod für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 3/2015 (gekürzte Fassung).
Willkommen im gesunden Kinzigtal
Im Schwarzwald greift eine Idee, die eigentlich überall funktionieren könnte: Jeder Bürger des Kinzigtals nimmt seine Gesundheit selbst in die Hand und wird dabei von allen Seiten unterstützt – darunter Ärzte, Arbeitgeber, Vereine und Krankenkassen. Besuch in einem rundum gesunden Projekt.
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Äste krachen, ein Reh huscht durchs Gehölz. Der Wind lässt die mächtigen Tannen rauschen. Und da ist noch ein Geräusch: ein leises Zischen. Das produziert Jürgen Gerhardt. Der drahtige Rentner mit dem akkuraten grauen Bürstenschnitt steht mitten auf dem Waldweg und hält einen etwa 1,20 Meter langen silbernen Stab waagerecht über dem Kopf. Seine ausgestreckten Arme spannen sich rhythmisch an, dadurch wippen die mit blauen Kugeln versehenen Enden des flexiblen Sportgeräts energisch auf und ab. "Man wird nich Popeye dadurch, aber det is trotzdem janz schön anstrengend", findet der gebürtige Berliner. Der 72-Jährige ist fit. Er hat weder Herzprobleme, Bluthochdruck, Arthrose noch andere chronische Beschwerden, unter denen viele Altersgenossen leiden.
Gerhardt ist überzeugt davon, dass das auch an einer Entscheidung lag, die er vor genau zehn Jahren traf. Seit der Gründung 2005 sind er und seine Frau Edelgard Mitglieder bei "Gesundes Kinzigtal" – einem deutschlandweit einzigartigen Präventionsprojekt in ihrer Wahlheimat, dem Schwarzwald. Die Gerhardts kostet das keinen Cent, aber es bringt Vorteile: Denn die 53 teilnehmenden Ärzte reagieren nicht nur wie üblich auf Beschwerden. Sie setzen sich gemeinsam mit Physiotherapeuten, Fitnessstudios, Kliniken und Pflegediensten aktiv dafür ein, dass ihre Patienten erst gar nicht krank werden. Die Mediziner nehmen sich mehr Zeit, tauschen sich mit behandelnden Kollegen aus und weisen auf passende Programme hin, an denen Mitglieder ermäßigt oder kostenlos teilnehmen können. Auch für chronisch Kranke gibt es Präventivmaßnahmen: Sturztraining bei Osteoporose, Hausbesuche bei Herzinsuffizienz.
Mehr Aufmerksamkeit, mehr Maßnahmen, aber keine Extrakosten. Wie kann das funktionieren? Eigentlich ganz einfach, sagt Gesundheitsmanager Helmut Hildebrandt, dessen Idee hinter dem regionalen Gesundheitsnetzwerk steckt. Und die kam ihm so: Ende der Neunzigerjahre wurde der Apotheker und ehemalige Grünen-Abgeordnete Geschäftsführer eines verschuldeten Krankenhauses in Niedersachsen. Die veraltete Heizungsanlage verbrauchte zu viel Energie, aber es gab kein Geld, um sie zu erneuern. Hildebrandt fand eine Firma, die die Sanierung kostenlos vornahm. Dafür beteiligte er sie zehn Jahre lang an der Heizkosten-Differenz, die er dank der neuen Anlage sparte.
Dieses Schema übertrug er aufs Gesundheitswesen. Zusammen mit einem regionalen Ärztenetzwerk gründete Hildebrandt die "Gesundes Kinzigtal GmbH" und schloss Verträge mit zwei Krankenkassen: der AOK Baden-Württemberg, dem größten Versicherer vor Ort, und der Landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK). "Besonders von der großen AOK war das ein mutiger Schritt", sagt Hildebrandt, der auch das Bundesgesundheitsministerium und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beriet.
Hildebrandt winkte damals mit einem lukrativen Deal. Er versprach, die Kosten pro Patient zu senken – durch Vorsorgemaßnahmen, die die Zahl teurer Operationen, Krankenhausaufenthalte oder Pflegemaßnahmen reduzieren sollten. Im Gegenzug wollte er von den Krankenkassen eine Beteiligung an der Ersparnis. Rund 33.000 Versicherte zählen die AOK und die LKK im Kinzigtal südöstlich von Offenburg. Knapp ein Drittel davon macht inzwischen mit bei "Gesundes Kinzigtal". Im Jahr 2013 sparten die beiden Krankenkassen im Vergleich zu anderen Wettbewerbern in Baden-Württemberg rund 170 Euro pro Mitglied ein – insgesamt also über fünf Millionen! Für "Gesundes Kinzigtal" bedeutete das einen Jahresüberschuss von bis zu 850.000 Euro.
Frühzeitig aktiv werden
Allgemeinärztin Dr. Brigitte Stunder führt mit ihrem Mann seit über 30 Jahren eine Praxis im beschaulichen Zell am Harmersbach. Ihr Job sei jetzt viel befriedigender, sagt sie. "Früher konnten wir erst eingreifen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen war. Jetzt kann ich gefährdete Patienten schon früh ansprechen und zum Handeln motivieren. Aber noch wichtiger: Ich kann ihnen einen Weg aufzeigen, lasse sie also mit der Lösung des Problems nicht alleine stehen." So wie im Fall von Manuela Puhtos. Mit Stunders Unterstützung hält die Hausfrau und zweifache Mutter ihren erhöhten Blutdruck unter Kontrolle. Und nimmt jetzt auch noch mit einem "Gesundes Kinzigtal"-Programm ab. Elf Kilo runter in elf Wochen – ein großes Erfolgserlebnis für Puhtos, bei der bisher keine andere Diät auf Dauer funktionierte.
Noch etwa fünf Jahre wollen die Stunders arbeiten und hoffen, dann einen Käufer für ihre Praxis zu finden. "Der demographische Wandel ist bei uns voll angekommen, die meisten Ärzte hier sind zwischen 60 und 65", sagt Brigitte Stunder. Wie in vielen ländlichen Gegenden ist es schwierig, Nachwuchs zu finden. Doch auch da setzt "Gesundes Kinzigtal" an: 2009 wurde ein Förderprogramm für junge Ärzte initiiert. Verbringen die ihre Assistenzzeit in der Region, erhalten sie ein überdurchschnittliches Gehalt – und haben gute Chancen, nach Abschluss ihres Studiums auch gleich eine Praxis zu übernehmen. Viermal ist das schon geglückt.
Désirée Hämmerle musste niemand groß überreden, damit sie sich im Schwarzwald niederlässt. Die 34-Jährige arbeitete als Animateurin auf den Malediven und reiste lange um die Welt, bevor sie vor neun Jahren an die Kinzig zog. Da erwartete sie gerade den ersten ihrer vier Söhne mit Ehemann Dennis. "Ich wollte meinen Kindern die Möglichkeit geben, unbeschwert aufzuwachsen. Und zwar in einer wunderschönen Gegend, wo andere Urlaub machen."
Angebote für alle
Désirée Hämmerle will dafür sorgen, dass anderen das genauso geht. Sie war eine der ersten Fitnesstrainerinnen bei "Gesundes Kinzigtal" und ist selber mit der kompletten Familie dort angemeldet. Weil auch für Kinder bestimmte Zusatzuntersuchungen gratis sind. Hämmerle bietet neben Aquafitness auch Kurse für frischgebackene Mütter an, doch der Großteil ihrer Kundschaft gehört zur Altersgruppe 50 plus. "Bei uns auf dem Land dauert es, bis sich etwas Neues bewährt", erklärt sie. "Gerade bei einer Mitgliedschaft sind viele Menschen skeptisch. ,Wo ist da der Haken?‘, fragen die sich." Anfänglich waren noch alle Kurse für die Mitglieder umsonst. "Aber das führte dazu, dass die Teilnehmer sich nicht verpflichtet fühlten, regelmäßig zu kommen", so die Trainerin. Bei einem großen Projekt wie diesem gehört eben auch viel Trial und Error mit dazu.
Das Modell, das in der Heimat von Kuckucksuhr und Bollenhut begann, zieht immer weitere Kreise: Die AOK hat Helmut Hildebrandt drei weitere Gebiete in Baden-Württemberg in Aussicht gestellt. Außerdem ist er mit mehreren saarländischen Regionen im Gespräch und entwickelt in Hamburg ein Konzept für zwei sozial schwache Stadtteile. "Die fachärztliche Versorgung dort ist extrem schlecht, die Kriminalitätsrate hoch. Aber es gibt Ärzte, die Lust haben, genau diese Herausforderung anzunehmen." Hildebrandt nennt das "gesundheitsförderliche Stadtentwicklung" und hofft, für die Anschubfinanzierung einen Zuschuss vom Innovationsfonds der Bundesregierung zu erhalten. Die hält ab 2016 jährlich 300 Millionen Euro für regionale Versorgungsprojekte bereit, die später auch im großen Rahmen funktionieren können. Genau wie das Kinzigtal-Modell: "Wir haben ein Qualitätsmanagement aufgebaut, das sich jetzt problemlos multiplizieren lässt", sagt Hildebrandt.
Und zwar nicht nur in Deutschland. Der Gesundheitsreformer hat letztes Jahr in Holland eine Schwesterfirma seiner OptiMedis AG gegründet und in Nijkerk südöstlich von Amsterdam ein Programm für Atemwegserkrankungen angeschoben. "Ich bin überzeugt davon, dass wir regionale Gesundheitsnetzwerke brauchen. Was ist die Alternative? Das jetzige Gesundheitssystem schafft nur den Anreiz, es maximal auszunutzen. Das ist irgendwann finanziell und arbeitskräftetechnisch nicht mehr tragbar."
Alle zwei Wochen fährt Hildebrandt die sechseinhalbstündige Zugstrecke von Hamburg in den Schwarzwald. Hier leben die Menschen, die an seine Idee glaubten, als andere sie noch für unrealisierbar hielten. Er ist weiter voll dabei, nimmt sich Zeit für Projektgruppentreffen und Beiratssitzungen bis spät in die Nacht. Auch morgens um halb sieben, wenn er im Freibad seine Bahnen zieht, hat Hildebrandt schon ein offenes Ohr für Fragen und Probleme seiner Mitschwimmer. Wenn es sein Terminkalender zulässt, braust Hildebrandt mit seinem Rennrad an der Kinzig entlang, beobachtet die surrenden Libellen und lässt Steine über die Wasseroberfläche springen. Der Vater zweier erwachsener Kinder lebt fast so gesund, wie er es sich von den Bewohnern des Kinzigtals wünscht. "Vielleicht mit ein bisschen weniger Schlaf", gibt er zu.