Blick auf den Flensburger Hafen.

Nicht nur geografisch an der Spitze

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung verglich die Höhe der Sozialausgaben der Kommunen und fand besonders bei Flensburg hohe Werte. Wir wollten vor Ort erfahren, woher die Probleme kommen und wie sie gelöst werden können.

Infos zum Text

Text von Carina Braun für change - das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 3/2015 (gekürzte Fassung).

Der Luxus kommt in kleinen Gläschen. Schwarz und salzig stapelt er sich neben Pudding, eingeschweißtem Fischfilet und Tsatsiki. An schlechten Tagen ist gerade mal genug Pudding für die Kinder da. An guten Tagen gibt es sogar Kaviar.

Es ist Mittwoch, und Mittwoch ist Ausgabetag an der Flensburger Tafel. Helfer in grünen Schürzen stapeln Kisten mit Romanesco und Blumenkohl, platzieren Käse und Joghurt hinter der Theke. Die Besucher kommen früh und mit großen Taschen. Viele sind schon lange arbeitslos. Manche haben ihr Leben lang gearbeitet und können nun doch nicht von der Rente leben. Ein Mann aus dem Kosovo erzählt, dass er Ehefrau und Haus verloren hat. Und nun weigert sich sein Sohn, mit ihm zur Tafel zu kommen, weil er sich schämt. "Hinter jedem Besucher steht ein Schicksal", sagt Tafelleiter Klaus Grebbin. Als er im Februar 2013 angefangen hat, kamen gerade mal bis zu 150 Familien pro Woche. Inzwischen sind es bis zu 500. "Die Zahlen sind explodiert."

"Flensburg ist eine Billiglohnecke. Die, die arbeiten, kriegen oft zu wenig."

Klaus Grebbin, Leiter der Flensburger Tafel

Flensburg: rund 90.000 Einwohner, Grenzstadt zu Dänemark, nördlicher geht es nicht auf dem deutschen Festland. Die Stadt, malerisch an der Flensburger Förde gelegen und überregional vor allem wegen der Verkehrssünder-Punkte bekannt, geriet vor einigen Wochen plötzlich wegen eines ganz anderen Themas in die Medien. Grund war eine Studie der Bertelsmann Stiftung zu den steigenden kommunalen Sozialausgaben in Deutschland. Sie zeigte unter anderem auf, wie unterschiedlich die Belastung der Kommunalhaushalte bundesweit ist. Ganz oben auf der Liste stand Flensburg: Mit 58 Prozent muss die Stadt einen so großen Teil ihres Etats auf Sozialleistungen verwenden – wie keine andere Kommune Deutschlands.

Für Henning Brüggemann kam das Ergebnis überraschend. "Ich hätte eher gedacht, dass Kommunen in den neuen Bundesländern oder in Nordrhein-Westfalen an der Spitze stehen", sagt er. Brüggemann, ein großgewachsener Mann, der gerne auf Krawatten verzichtet, ist Bürgermeister und Kämmerer der Stadt Flensburg. Immer wieder wird er nun auf die Sozialausgaben angesprochen, immer wieder soll er sie erklären. Brüggemann zufolge habe das Land Schleswig-Holstein jahrelang lieber die ländlichen Gegenden finanziert als die kreisfreie Stadt Flensburg. Außerdem scheine der Anteil der Sozialausgaben im Haushalt auch deshalb so groß, weil etwa die Infrastruktur ausgegliedert ist. Brüggemeier weist aber auch darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit in Flensburg hoch ist und dass es viele Fälle in der Jugendhilfe gibt.

Flensburgs Bürgermeister Henning Brüggemann sieht in der schwierigen Situation seiner Stadt auch eine Chance, deutlich über Sozialpolitik zu reden und so den Bund in die Verantwortung zu nehmen.

Menschen hinter den Zahlen

Bei Klaus Grebbin treffen sich vor und hinter der Theke die Menschen, die hinter diesen Zahlen stehen. Arne Gelowik, ein Berg von Mann, bahnt sich mit schweren Kisten bepackt den Weg durch das Gewusel. Der 47-Jährige ist gelernter Informatikkaufmann, aber immer wieder bekommt er zu hören, dass er zu alt sei für den Computerberuf. Also hält er sich mit Kurzzeitjobs und mit Hartz IV über Wasser und jobbt auf Ein-Euro-Basis bei der Tafel.

Bis zu 50 Stunden pro Woche investiert Klaus Grebbin ehrenamtlich in die Leitung der Tafel – "inzwischen hängt mein ganzes Herzblut daran." Immer wieder hört er, wie Leute sich beschweren, dass Hartz-IV-Empfänger zu viel bekämen. "Dabei ist es andersrum", sagt er. Er kennt viele Menschen, deren Anträge auf Hartz IV oder Aufstockung abgelehnt wurden, viele, die an der Bürokratie verzweifeln.

Auch Johanna kennt die Sache mit der Bürokratie. Für die 26-Jährige kommt ein Besuch bei der Tafel zwar noch lange nicht in Frage. Aber sie steht kurz davor, erstmals in Hartz IV zu rutschen. Seit knapp einem Jahr erhält sie Arbeitslosengeld, sie war Schornsteinfegerin, dann wurde sie krank, nun möchte sie eine Umschulung zur Raumgestalterin machen. Einen Job hätte sie schon für danach. Aber immer wieder scheitern ihre Anträge auf Bezahlung der Ausbildung, sieht sie sich neuen Sachbearbeitern gegenüber, wartet sie. Bald ist ein Jahr vorbei. Dann Hartz IV. Und wenn es dann immer noch nicht klappt? Sie zuckt die Schultern.

Johanna, 26, strebt eine berufliche Umschulung an, scheitert jedoch bislang an bürokratischen Hürden. "Im schlimmsten Fall muss ich putzen gehen" sagt sie.

Henning Brüggemann wünscht sich ebenfalls mehr Unterstützung. "Der Bund müsste für eine ausgeglichenere Finanzierung sorgen, deregulieren und mehr Freiheiten geben."  Vor vier Jahren hat die Stadt ein Pilotprojekt zur Kita-Prävention gestartet, um Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten rechtzeitig aufzufangen. Sozialpolitik, glaubt Brüggemann, muss in Flensburg vor allem Bildungspolitik heißen – "gezielt auch im frühkindlichen Bereich." Für ihn ist das ein Gegenentwurf zu dem, was er an der Sozialgesetzgebung als "strukturerhaltend" kritisiert.

"Wir können nicht immer nur helfen, indem wir zahlen. Wir müssen auf mehr Prävention vor Ort setzen, um die Kosten gar nicht erst entstehen zu lassen."

Henning Brüggemann, Bürgermeister der Stadt Flensburg