Text von Joachim Fritz-Vannahme für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 2/2015.
Schaut auf dieses Land!
60 Experten aus Europa und Nordafrika diskutierten vom 28. bis 30. April auf der 2. Europäischen Nachbarschaftskonferenz in Tunis, wie eine reformierte europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) die politischen und sozio-ökonomischen Transformationsprozesse in den südlichen Nachbarstaaten der EU unterstützen kann.
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Eine Konferenz ist eine Konferenz ist eine Konferenz. Sie gleichen sich in Ablauf und Tonfall, pflegen ihre Rituale und auch schon mal eine gewisse Langatmigkeit. Und doch ist manche Konferenz plötzlich ganz anders. "Ich habe viele Konferenzen in meinem Leben erlebt, glauben Sie mir. Aber diese hier gehörte zum Besten, was ich jemals mitmachen durfte", schloss der Moderator die zweitägige EU-Nachbarschaftskonferenz der Bertelsmann Stiftung in Tunis.
Wer da sprach, dürfen wir leider nicht verraten. Im internationalen Konferenz-Jargon heißt das: Es gelten die Chatham-House-Regeln, kodifiziert vom Londoner Think-Tank gleichen Namens. Zitate sind demnach gerade noch erlaubt, am besten in indirekter Rede (wogegen sich der Berichterstatter soeben entschieden hat), auf keinen Fall aber mit namentlicher Zuschreibung (was hier respektiert wurde). Denn im Schatten der Diskretion gedeihen offene Gespräche am besten. Immerhin sei so viel verraten, dass der weltläufige Urheber jenes Kompliments an der Spitze von Ministerien und Regierungen und in den Jahren danach in der Tat unzählige Konferenzen hat erleben oder gar erdulden müssen. Wir dürfen dem alten Kämpen der Konferenzwelt also ruhig glauben.
Da wir schon bei den Vorzügen wörtlicher Rede sind, hier gleich noch ein Zitat, vom Anfang der Konferenz über "Tunisia's transformation – Cooperating with the neighbours: Europe, North Africa and the Gulf Cooperation Council". Und diesmal dürfen wir ungeniert verraten, dass da kein Geringerer als Bundespräsident Joachim Gauck sprach, auf dem öffentlichen Forum der Konferenz, vor einem halben Dutzend Regierungschefs, Ministern und ehemaligen Ministern, vor rund dreihundert Vertretern aus Wirtschaft, Medien, Gesellschaft und vor Dutzenden von Mikrofonen und Kameras.
"Zunächst einmal möchte ich mich bedanken: bei Ihnen, verehrter Herr Ministerpräsident Habib Essid, der Sie mich und uns alle mit Ihrer Anwesenheit beehren. Und dann natürlich bei der Bertelsmann Stiftung, die diese interessante und wichtige Tagung ausrichtet. Sie diskutieren heute viele Fragen, die auch mir am Herzen liegen: Wie kann aus Diktaturen oder despotischen Regimen eine Demokratie hervorgehen? Wie lernen Menschen den Umgang mit der Freiheit, nachdem sie die Freiheit errungen haben?"
Was als "interessante Tagung" (Gauck) begann, endete zwei Tage später im Sheraton-Hotel von Tunis als "eine der besten, die ich je erleben durfte" (Anonymus). Was war geschehen, dass binnen kurzem aus dem Interessanten ein Ereignis wurde?
Hilfe zur Selbsthilfe
Aus dem fensterlosen Sitzungssaal im Hotel drang weder lautes Geschrei, noch knallten die Türen: Sittsam ging es zu, auch wo Gegensätze auf den Tisch kamen. Unter den vielen Wortwechseln war keiner, der von giftigem Zischen begleitet worden wäre. Kaum je hatte Langeweile die Gelegenheit, es sich auf einem Stuhl im Saal bequem zu machen. Es wurde räsoniert über die Aussichten einer jungen Demokratie in einer unruhigen, kriegerischen Weltgegend, von Libyen über Syrien bis zum Irak und Jemen, von Mali bis Somalia. Es wurde gestritten über den besten Weg zu mehr Wachstum und mehr Auslandsinvestitionen, zu einer besseren wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der EU, den Golfstaaten und Tunesien und mehr noch, zwischen Tunesien und seinen nordafrikanischen Nachbarn, wo derzeit nur wenig läuft. Wer kann der jungen tunesischen Demokratie wie am besten helfen – und wie kann sich das Land mit seinen knapp elf Millionen Einwohnern selbst helfen?
Was also war geschehen, damit diese wenig spektakulär verlaufene Konferenz gleichwohl zum Ereignis werden konnte? Die Antwort lag vor den Türen des Saales und fand immer wieder mit energischem Schritt den Weg in die Debatte. Zitieren wir noch einmal Präsident Joachim Gauck: "Für das, was die Bürger Tunesiens in den vergangenen Jahren gewagt und erreicht haben, gilt ihnen mein ausdrücklicher Respekt. Niemand hat am 17. Dezember 2010 ahnen können, dass die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers eine autoritäre Herrschaft zum Einsturz bringen würde. Erst recht hatte niemand vermutet, dass die Massenproteste in Ihrem Land zum Startsignal für ein Erwachen und Aufbegehren einer ganzen Region werden würden. Selbstherrliche, korrupte Autokraten wurden gestürzt, jahrzehntelange Klientelwirtschaft wurde aufgebrochen. Insofern war und bleibt der sogenannte Arabische Frühling eine Zeitenwende ..."
Und über die weitere Ausgestaltung dieser Zeitenwende zerbrachen sich die Teilnehmer der Konferenz die Köpfe. Der Augenblick war magisch – die Argumente mussten dem gerecht werden.
Wie lernen Menschen den Umgang mit der Freiheit, nachdem sie die Freiheit errungen haben?, hatte Gauck zu Anfang gefragt. Antworten darauf haben die Tunesier seit jenem 17. Dezember 2010 auf beeindruckende Weise geliefert, mit der freiesten Verfassung der muslimischen Welt, mit Wahlen von Parlament und Präsident und zuletzt, als sie nach dem mörderischen Anschlag am 18. März auf das Bardo-Nationalmuseum zu Zehntausenden auf die Straßen strömten und Sprechchöre anstimmten für die Freiheit.
Der Umgang mit Freiheit
"Kann Tunesien als strahlender Leuchtturm in der Region von uns Europäern so begleitet werden, dass dies ermutigend und stabilisierend wirkt und guten Rat für den demokratischen Übergang liefert, ohne dass die Europäer dabei bevormundend auftreten?", fragte Aart De Geus als Vorsitzender des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung zur Eröffnung des zweiten Tages.
Die EU dürfe ihre Hilfe nicht an Bedingungen knüpfen, war von europäischer Seite wiederholt zu hören, denn dies würde ihr bereits von den eigenen Regeln und Vorschriften untersagt. Partnerschaft sei die einzig richtige Parole. Die Tunesier müssen sagen, was sie wollen – und was sie lieber nicht wollen.
Geld ist wichtig, gewiss. Wichtiger aber noch sind gute Ideen, dauerhaftes Engagement, ein ehrliches Miteinander, wie es unter den Bedingungen der vormaligen Diktatur in Tunesien nicht zu haben war. Ehrlich ging es im Saale denn auch mehr als einmal zu: Tunesien wünscht sich mehr Investitionen aus dem Ausland, noch kämen 80 Prozent aller Investitionen aus dem Inland. Ja, das wissen wir Europäer, so eine Replik, aber wisse Tunesien auch, dass es um diese Auslandsinvestitionen in einem harten Wettbewerb stehe, mit Marokko etwa? Die Arbeitslosigkeit neige bei den unqualifizierten Beschäftigten gegen null, bei den Hochqualifizierten liege sie bei fast 25 Prozent: Also gehe es der heimischen Industrie, auch dem Handwerk zu sehr nur ums kurzfristige Geschäft, nicht um eine langfristige Steigerung der Produktivität. Präsident Gauck machte übrigens vor der Konferenz Station im Hinterland, das als wirtschaftlich rückständig gilt: Ein gutes Signal, denn die Firma, die er dort besuchte, sei ein gelungenes Beispiel für Sozialpartnerschaft – und das lokale Bürgerbüro ein Vorzeigeprojekt moderner Verwaltung.
Alles hat in diesem Land derzeit mit allem zu tun: Wer Sicherheit will, der muss für Arbeitsplätze sorgen, und damit für ein gutes soziales Klima. Wer das will, muss Kapital ins Land holen, aus Europa, aus den Golfstaaten. Aber wo eigentlich, fragte ein Teilnehmer, steht dieses von Sonne und Wind verwöhnte Land bei den erneuerbaren Energien? Und wer Kapital ins Land zieht, der muss Investoren stabile Verhältnisse bieten. Also weg mit der Korruption, weg mit bürokratischen Labyrinthen, in denen sich eine einfache Genehmigung endlos verlaufen kann.
Das sind nur Momentaufnahmen aus den vielen Debatten aus einem fensterlosen Tagungsraum, der gleichwohl Schlaglichter warf auf die Mühen des Alltags – und die Visionen für eine bessere Zukunft.
Als im Kalten Krieg die Sowjets 1948 West-Berlin blockierten, hielt der damalige Bürgermeister Ernst Reuter eine legendäre Rede: "Völker dieser Erde, schaut auf diese Stadt!" Nach den Gesprächen von Tunis ist man bewegt zu sagen: "Schaut auf dieses Land!" Es hat sich seine Freiheit erkämpft, vor unseren Augen. Jetzt ist Tunesien auch auf uns Europäer angewiesen, um diese Freiheit zu sichern und zu verteidigen. In diesem Land, so der Bundespräsident, entstehe "ein neues Kapitel in der Geschichte der Demokratie – dieses Mal in einem Land mit arabisch und islamisch geprägter Kultur". Darum war diese Konferenz so ganz anders.