Rita Süssmuth sitzt auf einer Bank in einem Park und lächelt in die Kamera.

Engagiert und glaubwürdig

Ausgrenzung, Abkanzlung, Ungerechtigkeit – wenn man Prof. Dr. Rita Süssmuth fragt, was ihr politisches Handeln am meisten geprägt hat, waren es diese eigenen Erfahrungen. Über die Jahre hat sie erlebt, wie wichtig es ist, einen langen Atem und sein Ziel im Blick zu haben, um die Welt zu verändern. Ein Porträt über die diesjährige Reinhard-Mohn-Preisträgerin.

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Text von Tanja Breukelchen für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 2/2015.

Mit ihrer Tasche, Jacken und Halstüchern über den Arm kommt Prof. Dr. Rita Süssmuth zum Interview in ihr Berliner Büro. Schwer bepackt. Gleich mehrere Alternativen für den Fototermin hat sie dabei. Und das keinesfalls aus Eitelkeit. Sondern aus Erfahrung. Aus Professionalität. Weil es einfach ärgerlich ist, wenn bei einem eh schon knapp bemessenen Termin noch lange nach einem bunteren Blazer oder einem Farbtupfer fürs Foto gesucht wird. Da denkt sie lieber gleich mit. Schließlich ist ihre Zeit immer noch fest verplant.

Migration – ihr großes Thema? Rita Süssmuth schaut nachdenklich. "Ich bin durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre geprägt worden. Es sind damals viele Flüchtlinge aus Ostdeutschland und Mittelosteuropa nach Deutschland gekommen. Ich war gerade neun Jahre alt und lebte in einer Bauernschaft in Westfalen. Da gab es eine Kneipe, und dahinter war ein Brotbäcker. Wenn am Samstag Menschen ihre Platten und Kisten mit Brot brachten oder abholten, gab es eine Gruppe, die immer ganz hinten stand, das waren die Vertriebenen. Und wenn es dann endlich so weit war, dass sie dran waren, war plötzlich im Ofen kein Platz mehr. Das habe ich damals  intensiv mitbekommen. Und ich war traurig darüber." Nun gehen Sie mal vor, habe sie damals in der Schlange gesagt. Und auch dann war kein Platz mehr im Ofen. Kein Platz für die Fremden. "Sie waren unerwünscht. Das habe ich nie vergessen."

"Es gab eine Gruppe, die immer ganz hinten stand, das waren die Vertriebenen"

Rita Süssmuth

Erfahrung der Ausgrenzung

Menschen, die nicht dazugehören. Die nicht die gleichen Chancen haben wie alle anderen. Das war es, was Rita Süssmuth in die Frauenpolitik brachte. "Ich bin ja selbst ein Landkind, katholisch und bildungsfern, wie es damals hieß. Mit den Jahren wurde mir bewusst: Immer wieder gibt es Menschen, die man mit Defiziten versieht. Als wären sie schwächer und fehlerhafter als die anderen. Als wäre 'ihr Gehirn kleiner'. Das hat mein Leben geprägt. In der Gesundheitspolitik ebenso wie in der Gesellschaftspolitik."

Fragt man Rita Süssmuth nach ihrem nachhaltigsten Erfolg in einer ausweglosen Situation, dann spricht sie spontan von "Männern und Frauen, aber auch Kindern, die an AIDS erkrankt waren. Sie galt es vor Ausgrenzung zu schützen. Damals habe ich erlebt, was Ausgrenzung für Menschen bedeutet." Gemeint ist damit ihre Zeit als Bundesministerin  für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Ende der Achtzigerjahre, als sie gegen große Widerstände in der eigenen Partei nicht nur auf ärztliche Aufklärung und Beratung setzte, sondern zusätzlich noch die Verwendung von Kondomen zur Prävention propagierte. Damals ein Politikum. Bis heute ist Rita Süssmuth Ehrenvorsitzende der Deutschen AIDS-Stiftung, zu deren Mitbegründern sie zählt und deren Kuratorium sie mehr als 20 Jahre vorsaß.

"Nichtzugehörigkeit ist das Schlimmste, was Menschen passieren kann"

Rita Süssmuth

Gemeinschaft macht stark

"Nichtzugehörigkeit ist das Schlimmste, was Menschen passieren kann. Da kann man plötzlich Alte, Kranke, Behinderte verstehen…" Und, so fatal es klingen mag: Frauen! Eine Großbaustelle, damals, Ende der Achtzigerjahre. Ihr frauenpolitisches Schlüsselerlebnis fiel allerdings in  Rita Süssmuths' "erstes Leben" – dem als Wissenschaftlerin. 1966 war das. Als sich die damals 29-Jährige nach Geschichts- und Romanistikstudium in Münster, Tübingen und Paris, Postgraduiertenstudium der Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie und Promotion als Dozentin bewarb, wurde sie in ihrem ersten Vorstellungsgespräch auf einmal sehr privat befragt: Warum denn ausgerechnet sie sich beworben habe, wo doch auch ein Familienvater mit acht Kindern an der Stelle interessiert sei. Und ob die Probleme in ihrer Partnerschaft nicht vorprogrammiert seien, wenn sie vor ihrem Mann eine Dozentenstelle bekäme. Und wie es denn überhaupt mit ihrem Kinderwunsch aussehe. – "Nun hatte ich endlich eine Vorstellung von der Frauenfrage in der Praxis. Auf der Zugfahrt nach Hause konnte ich meine Tränen nicht mehr unterdrücken. Tränen der Empörung und Wut über so viel verqueres Denken", beschreibt Rita Süssmuth in ihrer gerade erschienenen Autobiografie "Das Gift des Politischen" die Situation.

Gerade in der Frauenpolitik wurde Rita Süssmuth bewusst, "wie nachhaltig das Frauenbild allzu lange von Defiziten, nicht von Potenzialen geprägt war. Frauen galten als zu emotional, als nicht belastbar und nicht logisch denkend. Vergleichbare Einstellungen finden wir gegenüber Migranten. Ich bin über die Frauenfrage zu den Migranten vorgestoßen und fand fast identische Sichtweisen der Defizite mit ihren Benachteiligungen und Ausgrenzungen. Inzwischen entdecken wir auch bei ihnen verstärkt die Potenziale."

Rita Süssmuth bricht zum Fotoshooting auf. Am Brandenburger Tor wird sie mehrfach von Touristen erkannt. Junge und Ältere sprechen sie an, begrüßen sie. Händeschütteln, das von Herzen kommt. Beobachtende Blicke, die ihr auch ein wenig unangenehm sind. Im Mittelpunkt stehen – das mag sie nicht. Und es erstaunt nicht, dass sie in Zeiten streikender Lokführer als Alternative eher über ein Busticket als über einen teuren Flug zum 500 Kilometer entfernten Sitzungstermin nachdenkt.

Rita Süssmuth vor dem Brandenburger Tor in Berlin. (Foto: Jan Voth)

Gegenwind aus der CDU

Die fünffache Großmutter steht mitten im Leben.  Auch wenn es darum geht, Menschen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Beim Thema Integration sei Bildung ein ganz wichtiger Faktor. "Dabei geht es um viel mehr als den Spracherwerb. Ich unterschätze gar nicht dessen Wichtigkeit. Aber es darf nicht zum Trockenschwimmen werden. Wenn wir Kinder oder Erwachsene auf harte Stühle setzen und ihnen Sprachunterricht erteilen, dann ist der natürlich notwendig, aber vorher müssen sie zur Sprache finden und motiviert sein, sich zu öffnen. Da hilft musische Bildung: Singen, Tanzen, Musikmachen."

Bürokratie und bloße Theorie sind ihr fremd. "Ich bin ja nicht als Parteimensch geboren und aufgewachsen, sondern zunächst mal als Mensch", sagt Rita Süssmuth. "Ich war fast 50 Jahre alt, als ich in die Politik einstieg." Damals, im Juli 1985, war das, als sie Direktorin des Instituts Frau und Gesellschaft in Hannover war und, gerade auf dem Weg nach Hamburg, einen Anruf von Juliane Weber aus dem Kanzleramt bekam. Helmut Kohl bat die überraschte Rita Süssmuth zum Termin nach Bonn – und fragte sie dort, ob sie sich vorstellen könne, das Amt des damaligen Familienministers Heiner Geißler zu übernehmen.

"Ich habe immer gedacht, Wissenschaft und Parteipolitik, das verträgt sich nicht miteinander. Es ist auch ein schmaler Grat", erinnert sie sich. Wie kaum eine andere bekam sie Gegenwind aus der eigenen Partei. Zum Beispiel, als sie 1994 in einem Interviewbuch schrieb, man brauche in Deutschland dringend ein Einwanderungsgesetz. Rita Süssmuth lächelt: "Das klingt sehr aktuell, nicht? Aber damals wurde ich nach der Veröffentlichung des Buches vom Fraktionsvorstand gefragt, was ich mir dabei gedacht hätte. So etwas komme nie in Frage! Und wenn mir jemand sagt, das kommt nie in Frage, dann gibt es bei mir immer wieder eine Reaktion: 'Nie? Das wollen wir doch mal sehen!'"

Viele Jahre mussten vergehen, bis ihr Vorschlag von einst Teil der politischen Diskussion wurde. Aber sie gab nicht auf: "Dinge brauchen Zeit. Aber es muss eine Zeit sein, in der man sehr aktiv ist und sein Ziel kennt. Ich bin am Thema geblieben." Die hohen Flüchtlingsströme der Neunzigerjahre. Die Kriege auf dem Balkan. Der Strom aus Osteuropa. Im Jahr 2000 dann kam das Thema Migration wieder näher an Rita Süssmuth heran, als sie es bis dahin geahnt hatte. "Es war bei einem Abendessen am Ende der Expo, als der damalige Bundesinnenminister Otto Schily an meinen Tisch kam." Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder plante eine Regierungskommission, die ein Konzept zur Neuausrichtung der Zuwanderung und Integration erarbeiten sollte. "Ein anderes Wort wurde tunlichst vermieden", erinnert sie sich. "Ob ich den Vorsitz dieser Kommission übernehmen würde, wurde ich gefragt. Ich bekam Zweifel, ob es Zustimmung in der CDU finden würde, denn die Regierungspartei war ja inzwischen die SPD. – Es fand auch, wie erwartet, keine Zustimmung. Aber ich kam zu dem Ergebnis, dass es bei dieser Aufgabe nicht nur um meine Partei, sondern um unser Land und um seine Menschen geht. Außerdem war die Kommission ganz gemischt zusammengesetzt. Das war eine schwierige, aber notwendige Entscheidung. Alldem hätte ich mich entziehen können, wenn ich 'nein' gesagt hätte.  Fünf Jahre später zeigte sich, es war eine richtige Entscheidung um Veränderungen zu bewirken."

"Dass wir heute von Einwanderung sprechen, wäre 2000 nicht möglich gewesen"

Rita Süssmuth

Wo sind unsere Werte?

Zuerst jedoch sah es wieder so aus, als würde sich nichts verändern. Doch dann plötzlich tat sich was: "Dass wir heute von Einwanderung sprechen, wäre 2000 nicht möglich gewesen. Wenn ich die Willkommensstudie der Bertelsmann Stiftung lese, weiß ich, dass wir uns auf einem guten Weg befinden. Manchmal denke ich, unsere Bürger sind zum Teil weiter als wir in der Politik. Zum Beispiel dann, wenn es darum geht, Flüchtlingen zu helfen." Und zur aktuellen Situation, zu Schlagzeilen über sinkende Boote auf dem Mittelmeer: "Eigentlich dürfte niemand von uns mehr nachts ruhig schlafen können, wenn er daran denkt. Das muss uns doch unruhig machen – wo sind denn unsere Werte geblieben? Es muss auf EU-Ebene eine Lösung gefunden werden, Flüchtlingen mehr Schutz zu gewähren und sie ausgeglichener zu verteilen."

Integration durch Arbeit

Und in Deutschland angekommen, sollten sie schnell eine Chance bekommen zu arbeiten. Denn nicht nur angeworbene Fachkräfte oder gut verdienende Migranten mit Blue Card sollen in Zeiten von demographischem Wandel und Fachkräftemangel einen Arbeitsplatz bekommen, auch Flüchtlinge sollen so schnell wie nur möglich die Chance haben, sich eine neue Existenz aufzubauen, findet Rita Süssmuth. "Sie wollen gebraucht werden. Ich bin viel mit Flüchtlingen zusammengekommen und habe gesehen, wie stark viele Menschen sind und sein wollen. Sie sind tausende von Kilometern geflüchtet, sind fast verdurstet, haben Schreckliches erlebt, wurden zum Teil wieder zurückgeschickt, flüchteten erneut. Das sind Menschen, die eine Stärke entwickelt haben, die ihnen selbst, aber auch uns hilft."

Wie wichtig das Gefühl sei, angekommen und aufgenommen zu sein, könne man täglich erleben, erklärt Rita Süssmuth und erzählt von ihrem Enkel, als der mit der Familie ins Ausland gezogen ist: "Am Anfang war er völlig verloren. Er war fünf, und ich dachte mir immer: dieses traurige Kind. Als ich drei Monate später zu Besuch kam, öffnete er mir die Tür und sagte 'Oma Rita, ich hab' einen Freund!' In dem Moment merkte ich, er war angekommen und konnte sich mit diesem Freund auf Englisch verständigen. – Man muss den Menschen die Chance geben, nicht nur in geschlossenen Unterrichtsräumen unter sich zu bleiben und Deutsch zu lernen, sondern Erfahrungen im Alltag machen zu können."

Reinhard Mohn Preis

Rita Süssmuth, die als Brückenbauerin zwischen politischen Lagern, zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft und zwischen den Religionen in diesem Jahr den Reinhard Mohn Preis erhält, wünscht sich für die Zukunft beim Thema Einwanderung Antworten auf die Frage, wie allen Einwanderern und Flüchtlingen Chancen für ein neues Leben gegeben werden können: "Ich wünsche mir jetzt eine breite politische Debatte, mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, unter Beteiligung von Arbeitgebern, Gewerkschaften, mit unseren Verbänden und Vereinen. Wir müssen und können Vielfalt gestalten. Homogene Deutsche sind wir in unserer Geschichte nie gewesen."

Rita Süssmuth ist noch häufig in Berlin, wohnt in einem kleinem Appartement. Auf ihrem Schreibtisch liegt viel Arbeit. Rastlos wirkt sie nicht. Im Gegenteil. Man glaubt ihr, wenn sie über sich selber sagt: "Ich bin dankbar für den Weg, den ich zunächst in der Wissenschaft und dann in der Politik gehen konnte. Ich habe Widerstände und Erfolge erlebt, bin Menschen mit unterschiedlichen Biografien begegnet. Veränderungen sind möglich, wir sind nicht ohnmächtig. Ich höre nicht auf zu lernen, versuche aber vor allem, mir selbst treu zu bleiben und das zu vertreten, wovon ich überzeugt bin."