Text von Tanja Breukelchen für change – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung.
Gekürzte Fassung des Beitrags aus change 3/2014.
Menschlichkeit in Zahlen
Gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich messen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat jetzt das Miteinander der Deutschen verglichen – und ist auf überraschende Ergebnisse gestoßen.
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Kann man menschliches Miteinander, gesellschaftliche Teilhabe und bürgerliches Engagement messen? – Man kann! Das zeigt das „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung. Nach einem internationalen Vergleich wurden jetzt erstmals auch die einzelnen deutschen Bundesländer erforscht und miteinander verglichen. Dabei wurden die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, die emotionale Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und die Orientierung am Gemeinwohl untersucht.
Wie steht es um die sozialen Beziehungen, also die sozialen Netze, das Vertrauen in die Mitmenschen und die Akzeptanz von Andersartigkeit? Wie steht es mit der Verbundenheit mit einer Gesellschaft – identifiziert man sich mit ihr, vertraut man ihren Institutionen und fühlt sich gerecht behandelt? Und wie steht es um Teilhabe, Hilfsbereitschaft und Anerkennung sozialer Regeln – wie stark orientieren sich die Menschen am Gemeinwohl.
Was abstrakt klingt, brachte handfeste Erkenntnisse hervor: Auch wenn der Gemeinsinn während der letzten beiden Jahrzehnte in Deutschland gewachsen ist – wobei Hamburg übrigens im Gesamtindex eine klare Spitzenstellung einnimmt – , gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen West und Ost. Außerdem fällt eine sehr ambivalente Entwicklung der Akzeptanz von Vielfalt auf, große Skepsis gegenüber Zuwanderung und generell ein Zusammenhang der Ergebnisse mit dem Alter der Menschen, aber auch mit dem Bruttoinlandsprodukt des jeweiligen Bundeslandes.
Unterschiede in Ost und West
Beispiel West – Ost: Während neben den Stadtstaaten auch Baden-Württemberg, Bayern und das Saarland überdurchschnittlich gut abschnitten, ist 25 Jahre nach dem Mauerfall in den neuen Bundesländern der Gemeinsinn stärker als direkt nach der Wende, doch der Abstand zu den westlichen Bundesländern ist größer denn je. Eine Entwicklung, die Parallelen zu anderen ehemals sozialistischen Staaten aufzeigt. So ist das relativ geringe Vertrauen der Ostdeutschen in ihre Mitmenschen typisch für Länder, in denen zuvor Kontrolle das gesellschaftliche Klima bestimmt hatte.
Beim Vertrauen in Institutionen wie Justiz und Polizei hingegen haben die ostdeutschen Bundesländer in den letzten zehn Jahren einen kräftigen Sprung nach oben gemacht. Allerdings: Die Verteilungsgerechtigkeit beurteilen die Bürger im Osten deutlich schlechter als die Bürger im Westen. So sind in den ostdeutschen Ländern erheblich mehr Menschen der Meinung, die Regierung solle dafür sorgen, Einkommensunterschiede zu reduzieren.
Dies spiegelt sich in einer relativ hohen Unzufriedenheit der Ostdeutschen mit dem eigenen Lebensstandard. Während im Westen seit 1990 durchgehend mehr als jeder zweite Bürger meint, einen gerechten Anteil am Wohlstand zu erhalten, sackte dieser Anteil in den meisten ostdeutschen Bundesländern nach einem Zwischenhoch wieder kräftig ab. Fast so niedrig wie direkt nach der Wende sind die Werte in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Dort empfindet nur noch jeder Fünfte seinen Lebensstandard als gerecht. „In vielen Regionen im Osten scheint der zwischenzeitliche Optimismus einer gewissen Ernüchterung gewichen zu sein“, sagt Kai Unzicker, Experte für gesellschaftliche Entwicklung in der Bertelsmann Stiftung.
Beispiel Akzeptanz von Vielfalt: Sie hat sich in Deutschland ambivalent entwickelt. So ist die Toleranz gegenüber Homosexuellen in fast allen Bundesländern erheblich angestiegen. Auch in den ostdeutschen Bundesländern hat sich die Akzeptanz erhöht, liegt aber außer in Thüringen unterhalb des Bundesdurchschnitts. Zuwanderern hingegen begegnen viele Deutsche nach wie vor mit großer Skepsis. Sie zeigen sich zwar zunehmend offener für ein gesellschaftspolitisches Engagement von Ausländern, akzeptieren allerdings immer seltener, wenn diese in Deutschland ihren traditionellen Lebensstil pflegen. Diese nachlassende Akzeptanz von kultureller Vielfalt erscheint unbegründet, denn die Studie zeigt: In den Bundesländern mit den höchsten Ausländeranteilen, wie zum Beispiel Baden-Württemberg mit der multikulturell geprägten Industrieregion um Stuttgart, halten die Bürger am engsten zusammen.
Zusammenhalt stärken
Mit ihrer Analyse, welche Faktoren entscheidend sind für den Grad des Zusammenhalts in einer Gesellschaft, liefert die Studie auch Erklärungen, warum die ostdeutschen Länder den Abstand zu Westdeutschland noch nicht verringern konnten: „Je höher das Bruttoinlandsprodukt eines Bundeslandes, je niedriger das Armutsrisiko, je urbaner das Wohnumfeld und je jünger die Bevölkerung, desto höher der Zusammenhalt“, fasst Kai Unzicker zusammen. Damit bestätigt die Studie, dass Wirtschaftskraft und Wohlstand förderlich sind für das innere Gefüge einer Gesellschaft.
„Hoffnung macht, dass sich der Zusammenhalt insgesamt leicht verbessert hat“, erklärt Kai Unzicker, „doch wie wir den Zusammenhang in einer vielfältigen Gesellschaft sicherstellen können, ist eine Schlüsselfrage der nächsten Jahre. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass sich die ökonomische sowie demographische Entwicklung in den verschiedenen Regionen teilweise massiv unterscheidet und zugleich die räumliche Mobilität voranschreitet.“ Deshalb plant die Bertelsmann Stiftung, sich schon bald in weiteren Untersuchungen mit den Ursachen, Zusammenhängen und Auswirkungen auf weitere Entwicklungstrends zu befassen.