Unsere Schulen, Kindergärten und Hochschulen werden immer vielfältiger. Dafür ist nicht nur die viel diskutierte Inklusion von Kindern mit besonderem Förderbedarf in den Regelschulen verantwortlich. Auch schicken immer mehr Eltern ihre Kinder auf das Gymnasium. Wenn in manchen Stadtteilen drei Viertel der Schüler das Gymnasium besuchen, wird dieses zu einer Gesamtschule der Mittelschicht. Zudem wächst die Zahl der Familien mit ausländischen Wurzeln; so treffen vor allem in den Kitas und Schulen der Großstädte Kinder unterschiedlichster Herkunft mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und Deutschkenntnissen aufeinander. Auf dem Land macht sich die demographische Entwicklung bemerkbar. In einzelnen Landkreisen werden die Schülerzahlen bis 2025 um über 40 Prozent sinken. Dieser Schülerschwund führt zur Zusammenlegung von Schulen und Schultypen. Die Folge: Die Klassenzimmer werden immer heterogener.
Gingen in den Sechzigerjahren noch über 60 Prozent der Kinder eines Jahrgangs auf die Hauptschule, schafft heute etwa die Hälfte die Hochschulreife. Auch an den Hochschulen fächert sich deshalb die Leistungsbreite immer mehr auf. In den USA ist der Vollzeitstudent auf dem direkten Weg vom Klassenzimmer in den Hörsaal bereits in der Minderheit. 70 Prozent studieren dort „atypisch“ – in Teilzeit, berufsbegleitend oder per Fernstudium. Lebenslanges Lernen und seine Folgen werden auch die deutschen Hochschulen verändern.
Vielfalt als Chance
Die wachsende Heterogenität der Lernenden stellt die Bildungsinstitutionen vor große Herausforderungen. Doch die neue Vielfalt bietet auch Chancen für besseres Lernen.
Von Jörg Dräger (Vorstand der Bertelsmann Stiftung)
Heterogenität ist mittlerweile in allen Bildungseinrichtungen Realität. Wenn man produktiv mit ihr umgeht, kann diese Vielfalt eine Chance sein und kein Problem. Doch gerade daran scheitert unser heutiges Bildungssystem noch viel zu oft. Das fängt bei der frühkindlichen Bildung an: Es fehlen gute Krippenplätze, die faire Startchancen für alle Kinder ermöglichen würden. Dabei erhöht ein Krippenbesuch gerade bei Kindern aus bildungsfernen und Migrantenfamilien die Wahrscheinlichkeit, dass sie später aufs Gymnasium gehen – zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Bei den schulischen Leistungen hat Deutschland seit dem PISA-Schock 2001 erhebliche Fortschritte gemacht. Dennoch ist der Bildungserfolg weiterhin stark vom Elternhaus abhängig, die Leistungen der besten Schüler stagnieren. An den Hochschulen sucht man flexible Teilzeitstudiengänge meist vergeblich. Jahrzehntelang haben die politischen Parteien um Strukturfragen gestritten: Gymnasium versus Gesamtschule, Leistung versus Gerechtigkeit. Diese Themen verlieren an Bedeutung, wenn Vielfalt in jeder Bildungseinrichtung Normalität ist. Nun gilt es, mit dieser Vielfalt konstruktiv umzugehen – von der Kita bis zur Hochschule.
Bildungsinstitutionen müssen unterschiedlichen persönlichen Hintergründen, Begabungen und Leistungsständen besser Rechnung tragen. Statt gleichen Lernstoffs im gleichen Tempo für alle brauchen wir eine Kultur der individuellen Förderung mit variablen Lernformen, -geschwindigkeiten und -wegen für alle Lernenden. Dazu bieten gut ausgestattete Kitas und Ganztagsschulen den besten Rahmen. Die Hochschulen müssen sich vom Bild des klassischen Studenten verabschieden, sich auf die Bedürfnisse neuer Zielgruppen einstellen und deren Vorkenntnisse und Kompetenzen besser anerkennen. Dabei eröffnet auch die Digitalisierung neue Wege und Möglichkeiten, das Lernen für jeden Einzelnen zu personalisieren. All das schafft Chancengerechtigkeit in einer heterogenen Gesellschaft. Dafür und daran arbeiten wir.