Text von Tanja Breukelchen für change – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung.
Gekürzte Fassung des Beitrags aus change 3/2014.
"Es ist normal, anders zu sein"
Inklusion gelingt – doch wenn es um den Übergang von der Schule in den Beruf geht, wird es häufig schwierig, da erneut alte Vorurteile überwunden und neue Kontakte geknüpft werden müssen. Das Förderzentrum Schleswig-Kropp hat durch Netzwerke und mit einer flexiblen Berufseinstiegsphase optimale Bedingungen geschaffen.
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Björn mag keinen Lärm. Dann zieht sich der Vierzehnjährige in sich zurück. Mehr noch als sonst. Früher war das aber noch schlimmer. Da mied er alle Kontakte zu seinen Mitschülern. Sprach kaum mit ihnen. Blieb ganz für sich. Freundschaft, soziale Kontakte, Spaß in der Gruppe – Björn, der an einer eher milden Form des Autismus leidet, lässt all das gar nicht erst an sich heran. „Zu Hause höre ich gerne Musik und lese viel. Am liebsten Science-Fiction- oder Fantasy-Romane“, erzählt er. Mit Mitschülern mag er sich nicht treffen. „Die Klasse ist aber in Ordnung. Es gibt einige, die Unruhe stiften. Das mag ich nicht, aber ich hab mich mit der Zeit angepasst.“
Seine langjährige Lehrerin Martina Hahn (43) findet dafür wesentlich emotionalere Worte: „Er hat sich ganz einfach unglaublich toll entwickelt!“ Die Sonderschullehrerin kennt ihn seit der 6. Klasse am Förderzentrum Schleswig-Kropp. Die Schule steht wie kaum eine andere für Inklusion, wurde dafür unter anderem mit dem Jakob Muth-Preis ausgezeichnet und belegte den 2. Platz beim Wettbewerb Schule des Jahres 2014 in Schleswig-Holstein. Das Konzept: Das Förderzentrum mit Sitz in Schleswig ist eine Schule ohne Schüler. Dafür fahren die fast 50 Sonderpädagogen zu den rund 330 Kindern und Jugendlichen, die auf 26 Schulen sämtlicher Schulformen im südlichen Bereich des Kreises Schleswig-Flensburg – eine Fläche ungefähr so groß wie Hamburg – verteilt sind. So ist eine inklusive und wohnortnahe Betreuung aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf möglich.
Die Kontinuität gab ihm Halt
Björn jedoch kam erst in der fünften Klasse in die inklusive Schule und war zuvor auf einer reinen Sonderschule. Eine Zeit, an die er nicht gerne zurückdenkt: „Ich hab mich da fast zu Tode gelangweilt. Ich bin im Unterricht bald eingeschlafen, war den anderen immer einen Schritt voraus.“ Als er dann in die Geestlandschule nach Kropp wechselte, wurde alles anders. „Am Anfang war er in vielen Bereichen gehemmt“, erinnert sich Martina Hahn. „Aber über die Jahre ist er stabiler geworden, pflegt auch mal Kontakt zu seinen Mitschülern. Die Konstanz hat ihm Sicherheit gegeben. Als Björn ein kleiner Junge war, wollte er Zugführer werden. „Heute weiß ich, dass das schwierig ist“, sagt er. Dank eines Praktikums weiß er aber jetzt auch, was er wirklich will: „Tischler! Ich mag die Arbeit mit Holz.“ Erkannt hat er das in der so genannten Flex-Phase. Sie ermöglicht es nicht nur Schülern mit besonderem Förderbedarf, sondern auch schwachen Regelschülern, in drei Jahren den Lernstoff der achten und neunten Klasse zu bewältigen. Dort haben sie die nötige Zeit, gleich mehrere Praktika zu machen, in aller Ruhe Kontakt zu Unternehmen aufzubauen.
Dass Inklusion über die Schule hinaus funktioniert, ist nicht selbstverständlich, sagt Eike Fischer (41), Konrektor des Förderzentrums und Berater bei der Berufsorientierung. Er steht als Berater allen Schülern aller Schulen des Verbundes zur Seite, wenn es um Themen wie Berufsfindung, Berufsvorbereitung und den Übergang von der Schule in den Beruf geht. „Der Vorteil an der Flex-Phase ist, dass wir die Motivation aus den Praktika mit in den Schulalltag hinüberretten können, denn wenn die Schüler die Anforderungen von möglichen Ausbildungsbetrieben hören, ist die Motivation deutlich höher.“Wichtig seien dabei funktionierende Netzwerke. So wie bei Björn, wo Familie, Lehrer, Sonderpädagogen, Berufsberater, ein Schulbegleiter, ein Autismusberater und mögliche Ausbildungsstätten zusammenarbeiten.
Aber nicht nur für Schüler wie Björn ist der Übergang von der Schule in den Beruf eine Herausforderung. Auch für Kinder und Jugendliche mit körperlicher Behinderung gibt es Probleme, erklärt Fischer: „Es gibt auf Seiten der Betriebe große Vorbehalte, zum einen, was die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter angeht, und zum anderen, weil sie Angst vor möglicherweise entstehenden Kosten haben.“ Und auch Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ stehen vor manch einer Hürde. So wie Angelique und Michelle (beide 16) aus der 9e, einer weiteren Flex-Klasse, die am Rechner sitzen und eine Power Point-Präsentation vorbereiten. Das Thema: Welche Leistungen muss ich bringen, um eine Lehrstelle zu bekommen?
Für Michelle hat sich diese Frage bereits beantwortet. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Angelique, die inzwischen mit recht guten Noten den Hauptschulabschluss anpeilt und später einmal als Bürokauffrau arbeiten möchte, geht sie ganz bewusst demnächst ohne Hauptschulabschluss ab und beginnt eine Lehrstelle in einer Fleischerei. Während des Praktikums war das zurückhaltende Mädchen ihrem künftigen Arbeitgeber aufgefallen – durch ihre Zuverlässigkeit, Freundlichkeit und Pünktlichkeit. „Sie haben gesagt, wir schaffen das auch ohne Hauptschulabschluss, und wollten mich unbedingt haben“, erzählt sie glücklich. „Wenn die Noten an der Berufsschule dann stimmen, kann ich nachträglich immer noch den Hauptschulabschluss bekommen.
Alte Tugenden – neue Chancen
Das, was man heute Soft Skills nennt, ist für die Förderschüler die große Chance. Eike Fischer, der seit Jahren Schüler ins Berufsleben begleitet und Kontakt zu Unternehmen hält, ist sich sicher: „Diese Tugenden sind heute immer seltener, aber gerade damit können unsere Schüler in den Betrieben überzeugen. Die schulische Entwicklung muss natürlich auch stimmen. Die Betriebe sind bereit, viel mitzutragen, zusätzlich unterstützt die Arbeitsagentur, und wir haben auch so genannte Berufseinstiegsbegleiter und Coaching-Kräfte. Sie alle stehen als Ansprechpartner zur Verfügung, wenn es Stolpersteine gibt..“
Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung finden von den jährlich rund 50.000 Schulabgängern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur etwa 3.500 einen betrieblichen Ausbildungsplatz. Mehr als die Hälfte der Betriebe, die bereits Jugendliche mit Behinderung ausbilden, und rund ein Drittel der übrigen Betriebe sagen, sie würden mehr dieser Jugendlichen ausbilden, wenn sie besser vom Staat gefördert würden. Umgekehrt nimmt allerdings lediglich ein Viertel der Unternehmen die bereits bestehenden staatlichen Förderungen in Anspruch – schlichtweg deshalb, weil sie gar nicht wissen, dass es Unterstützungsangebote wie Zuschüsse zur Ausbildungsvergütung und Kostenübernahme für die notwendige Umgestaltung eines Ausbildungsplatzes gibt.
Motivation durch Praktika
Dass ein Schüler mit Förderbedarf bereits als Praktikant einen ganzen Betrieb auf den Kopf stellen kann, hat David (19) bewiesen. Ein freundlicher Typ, der als Schüler einfach ein massives Problem im Bereich Sprache und Rechtschreibung hatte. Seit September 2013 macht David nun seine Ausbildung zum Straßenbauer bei „Stadelmann Hoch- und Tiefbau“ – seinem ursprünglichen Praktikumsbetrieb. Davids Traumberuf! Als er dann in Schleswig in der Flex-Phase war, suchte er sich das Praktikum selbst und kam mit der Erkenntnis in die Schule zurück, dass Begeisterung alleine nicht alles ist, sondern auch die Noten stimmen müssen. „Die Realschulabsolventen stehen bei uns nicht Schlange“, sagt Schulz-Sperling, „aber ein Hauptschulabschluss sollte es schon sein. Mit Förderschülern wird es schon mal etwas schwierig, denn man muss mathematisch gut drauf sein, sich selbst organisieren können, und man muss auch das lesen können, was man als Arbeitsauftrag mitbekommt.“
David, der den Förderschwerpunkt „Lernen“ hatte, wusste, dass er den Hauptschulabschluss packen musste. „Da hab ich dann noch mal richtig Gas gegeben in der Schule und es auch geschafft.“ Seine Noten an der Berufsschule sind inzwischen im Dreierbereich, seine „Kopfnoten“ sind durchweg exzellent. Nicht ganz unbeteiligt daran dürften auch Förderschullehrerin Ilka Wegner (43) und Barbara Westphal (55), Coachingfachkraft im Übergangsmanagement, gewesen sein, die ihn auf seinem Weg in den Beruf begleiteten. „David hat alles aus eigener Kraft geschafft“, sagt Ilka Wegner stolz, „und er hat erkannt, wie wichtig auch heute noch Tugenden wie Verlässlichkeit und Pünktlichkeit sind – denn die sind, egal welchen Schulabschluss man hat, heute keine Selbstverständlichkeit mehr.“