Wenige Menschen, viel Menschlichkeit

Eine Krankenschwester fährt übers Land und versorgt Patienten, weil der nächste Arzt zu weit weg ist. Freiwillige Busfahrer unterstützen den öffentlichen Personennahverkehr, weil der sich teilweise nicht mehr lohnt. In Brandenburg sind gute Ideen die einzige Chance, die Menschen zu versorgen.

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Text von Keno Verseck für change – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung.
Gekürzte Fassung des Beitrags aus change 4/2014.

Schwester Anke begrüßt ihre Patienten mit einem Lächeln, das auch den hartnäckigsten Missmut wegzaubert. Liebevoll sagt sie Sätze wie: „Natürlich werde ich mich darum kümmern, machen Sie sich keine Sorgen!“ Anke Bruschke (46) ist eine so genannte „Agnes-zwei-Schwester“ und arbeitet am KVRegioMed-Zentrum des Sana-Klinikums in Templin, einem neuartigen geriatrischen Versorgungszentrum, das im November letzten Jahres eröffnete und in dem uckermärkischen Städtchen und seiner Umgegend dazu beitragen soll, eine steigende Anzahl betreuungsbedürftiger älterer Menschen in der Region besser zu versorgen.  

Das Akronym „Agnes“ steht für „Arztentlastende, Gemeindenahe, E-Health-gestützte Systemische Intervention“. Das Agnes-Programm wurde 2005 in vier ostdeutschen Bundesländern eingeführt und 2011 als Agnes-zwei-Programm weiterentwickelt, weil dort in ländlichen Gegenden Ärztemangel herrscht und immer weniger Ärzte immer mehr Patienten behandeln müssen. Agnes-Fachkräfte entlasten Ärzte in solchen medizinisch unterversorgten Regionen, erledigen von Ärzten delegierte Aufgaben, erheben Patientendaten, kontrollieren Blutdruck, wechseln Verbände, stellen Anträge zur häuslichen Pflege bei den Krankenkassen.  

Brandenburg hat großen Bedarf an innovativen Lösungen wie dem Agnes-zwei-Programm, denn der demographische Wandel macht sich hier besonders bemerkbar: Abseits der Ballungszentren sinkt die Bevölkerungszahl seit Jahren konstant, jüngere Menschen und gut ausgebildete Fachkräfte verlassen die ländlichen Gegenden, zurück bleiben die Alten. Beispiel Uckermark: Templin und das Umland, 80 Kilometer nordöstlich von Berlin, haben in den letzten 25 Jahren knapp 20 Prozent der Einwohner verloren. Bis 2030, so prognostiziert der Wegweiser Kommune der Bertelsmann Stiftung, werde hier bereits die Hälfte der Bevölkerung fast 60 Jahre alt sein. Die Folgen: Es steht weniger Geld für Infrastruktur zur Verfügung, immer mehr Buslinien des Nahverkehrs werden aufgegeben, Bildungsangebote verschlechtern sich, die Gesundheitsversorgung wird schwieriger.

Hausärzte entlasten

Anke Bruschke fährt oft über Land. In einem Kleinwagen, in Jeans und weiß-blauer Schwesternbluse. An diesem Tag jedoch nimmt sie den Fußweg. „Schwester Anke hier“, ruft sie gut gelaunt in die Gegensprechanlage eines Wohnhauses in der Templiner Altstadt. Annemarie und Hans Schönebeck öffnen und bitten Anke Bruschke in ihre Wohnung. Annemarie Schönebeck ist 78 Jahre alt und führt aus medizinischer Sicht ein mustergültiges Rentnerleben. Sie ernährt sich gesund, geht spazieren und wandert regelmäßig mit ihrem Mann Hans, der ein Jahr älter ist als sie. Doch sie leidet unter Arthrose, hat oft starke Schmerzen. Deshalb hat ihre Hausärztin ihr vorgeschlagen, am KVRegioMed-Zentrum eine intensive Therapie mit viel Gymnastik zu machen. Annemarie Schönebeck war sofort einverstanden.  

Anke Bruschke führt an diesem Tag das erste Gespräch mit der Rentnerin. Sie fragt sie nach allen Einzelheiten ihres Alltages und ihres Gesundheitszustandes, notiert viele Angaben in Formularen, dann erläutert sie ausführlich die Therapie: Drei Wochen lang wird sie im KVRegioMed-Zentrum jeden Tag Ergotherapie und Krankengymnastik machen – eine Art Kur vor Ort mit dem Ziel der Regenerierung und intensiven Mobilisierung. Annemarie Schönebeck freut sich. „Das hätte meine Hausärztin mir niemals verschreiben können!“  

Finanziert wird das KVRegioMed-Zentrum aus dem gemeinsamen Strukturfonds von KVBB und Krankenkassen, die Investitionen in die Räumlichkeiten hat das Sana-Klinikum Templin bezahlt. Doch nicht immer haben Projekte, die die Folgen des demographischen Wandels bewältigen sollen, das Glück einer gesicherten Finanzierung. Gerade in Brandenburg spielt ehrenamtliches Engagement eine große Rolle, wenn es darum geht, Lebensqualität in ländlichen Regionen, die von Abwanderung betroffen sind, aufrechtzuerhalten.

Ehrenamtliches Engagement

„So, die jungen Damen, dann können wir ja losfahren“, sagt Jürgen Wolf charmant. „Ach, Herr Wolf“, ruft von hinten die 72-jährige Edeltraut Schöbel, „wenn wir den Bürgerbus nicht hätten ...!“ Monika Schumacher (65) ergänzt: „Na, det wär’ janz schön schlecht!“ Die Haltestelle Gransee-Kirchplatz an einem Montagvormittag. Pünktlich um 9:44 Uhr ist der Bürgerbus gekommen, ein Kleinbus mit sieben Plätzen. Vier ältere Damen sind eingestiegen, sie hatten im Städtchen zu tun und fahren nun wieder nach Hause, sie wohnen jeweils in Dörfern des Umlandes.  

Edeltraut Schöbel musste ein Rezept in ihrer Hausarztpraxis abholen, dann war sie in einem Supermarkt, der Gelenkschoner im Angebot hatte, schließlich hat sie in einem Lebensmittelgeschäft noch etwas Aufschnitt und Gemüse eingekauft. Nun fährt sie in das Dorf Schönermark zurück, vier Kilometer von Gransee entfernt. Die Strecke wäre auch gut mit dem Fahrrad zu bewältigen, aber seit einem schweren Fahrradunfall vor sechs Jahren ist Edeltraut Schöbel auf keinen Sattel mehr gestiegen. Heute ist sie insgesamt zwei Stunden unterwegs gewesen. Wäre sie mit der normalen Buslinie gefahren, hätte es fast dreimal so lange gedauert.

Den Bürgerbus im Städtchen Gransee, 70 Kilometer nördlich von Berlin, gibt es seit 2005. Er wurde nach dem Vorbild ähnlicher Initiativen in Nordrhein-Westfalen gegründet und war die erste derartige Einrichtung in den ostdeutschen Bundesländern. In Gransee fahren ehrenamtliche Mitarbeiter an Wochentagen auf der Ringlinie 835 der Oberhavel Verkehrsgesellschaft (OVG), die von Gransee aus durch sieben zum Teil sehr abgelegene Dörfer führt. Jeweils vier Touren machen die Fahrer pro Tag, zwei am Vormittag, je eine mittags und nachmittags. In den Schulferien fahren die normalen Linienbusse nicht – dann ist der Bürgerbus neben dem so genannten Rufbus, der nur verkehrt, wenn man spätestens 90 Minuten vor Abfahrt anruft, das einzige Nahverkehrsangebot auf der Linie 835. Den ersten Bürgerbus bezahlte das Land Brandenburg aus Mitteln der staatlichen Lottogesellschaft, später schaffte die Gemeinde Gransee einen Bus an. Die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf fließen an die OVG, sie kommt umgekehrt für Benzin und Betriebskosten auf. Das Modell erwies sich als so erfolgreich, dass es inzwischen an fünf weiteren Orten in Brandenburg Bürgerbusse gibt.  

Jürgen Wolf (72) ist in Gransee von Anfang an dabei gewesen, er fährt einmal pro Woche. Der gelernte Kaufmann wollte nach seiner Verrentung „noch etwas Sinnvolles machen“, erzählt er, während er den Bus über einsame Brandenburger Alleen und Kopfsteinpflasterstraßen in Dörfern steuert. Er findet sein ehrenamtliches Engagement schlicht normal. „Früher hat man eben einfach mal etwas umsonst gemacht“, sagt er. „Das ist heute anders. Heute steht das Materielle zu sehr im Vordergrund.“ Jürgen Wolf selbst wird im Frühjahr nächsten Jahres aufhören zu fahren. Zehn Jahre seien genug, sagt er, er sei dann schließlich 73 Jahre alt. Zusammen mit Wolf hören noch zwei weitere Fahrer auf; übrig bleiben, wenn sich bis dahin keine neuen Freiwilligen melden, zwei Fahrer. Zu wenig, um den Betrieb des Bürgerbusses zu gewährleisten. Eine Schwierigkeit für den Verein ist auch, dass die Zahl der Arbeitslosen in Gransee und Umgebung sinkt. Noch vor einigen Jahren gab es mehr und damit auch mehr Freiwillige, die sich zum Fahrdienst meldeten. Rüdiger Ungewiß will nun alle Rentner in Gransee und Umgebung persönlich anschreiben und hofft darauf, dass genügend Freiwillige zusammenkommen, damit der Bürgerbus Gransee weiter fahren kann.