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So gelingt religiöse Vielfalt: durch Kontakt zueinander

Deutschland ist heute religiös divers. Damit das Miteinander gelingt, brauchen die religiösen Gruppen differenziertes Wissen und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Das zeigt eine neue Studie im Rahmen des Religionsmonitors 2023 der Bertelsmann Stiftung.

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Dr. Yasemin El-Menouar
Senior Expert – Religion, Werte und Gesellschaft

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Die Studie „Zusammenleben in religiöser Vielfalt“ analysiert auf Basis der Daten des Religionsmonitors 2023 die religiöse Landkarte Deutschlands. „Unsere Zahlen zeigen: Die Pluralisierung sowie die Individualisierung des religiösen Bereichs haben deutlich zugenommen“, sagt Yasemin El-Menouar, Religionsexpertin der Bertelsmann Stiftung. „Das birgt Spaltungspotenzial. Gegenseitige Wertschätzung und gelingendes Miteinander sind kein Selbstläufer, sondern eine Aufgabe für Religionspolitik und Religionsgemeinschaften. Unsere Studie zeigt, wo sie ansetzen müssen.“

In den vergangenen Jahrzehnten ist das religiöse Leben in Deutschland deutlich vielfältiger geworden. 1950 zählten sich noch fast 96 Prozent zu den beiden großen christlichen Konfessionen Katholizismus und Protestantismus. Andersgläubige und Nichtreligiöse machten in der Summe damals lediglich 4,4 Prozent aus. Laut Religionsmonitor 2023 ist das Bild heute ein ganz anderes. Demnach ordnen sich nur noch 50 Prozent der Befragten in Deutschland einem christlichen Glauben zu. Innerhalb dieser christlichen Bevölkerungshälfte zählen sich 88 Prozent zu Katholizismus und Protestantismus, hinzu kommen Christ:innen, die orthodox, freikirchlich/pfingstkirchlich oder ohne Konfession sind.

Die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Deutschland ist der Islam mit 8,5 Prozent. Auch der Islam ist in Deutschland divers und umfasst Sunnit:innen, Schiit:innen, Alevit:innen wie auch Konfessionslose. Es folgen in der Gruppe der Religionsgruppen Hinduismus (1,3 Prozent), Buddhismus (0,9 Prozent) und Judentum (0,3 Prozent). Über ein Drittel der Deutschen (35,9 Prozent) sieht sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig – das ist eine große, gesellschaftlich relevante Gruppe.

Wachsende Kluft zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen

Laut Religionsmonitor betrachten viele ihren Glauben heute als etwas Privates und Individuelles. Ein Großteil der Gläubigen nimmt gar nicht (25 Prozent) oder nur unregelmäßig (57 Prozent) an Gemeinderitualen teil. Die meisten Menschen hierzulande leben eine moderate Religiosität. Aber es zeigt sich eine zunehmende Kluft zwischen dem Drittel der Bevölkerung, das keinen Bezug zur Religion hat, und einem kleineren Kreis von Menschen, deren Leben stark religiös geprägt ist. Dazu zählen insbesondere Personen, die evangelikal-freikirchlich/pfingstkirchlich oder sunnitischen Glaubens sind.

Grundsätzlich belegt die Studie ein weiterhin hohes Maß an religiöser Toleranz – das aber im Vergleich zum Religionsmonitor 2013 abgenommen hat. So bejahen 93 Prozent die generelle Aussage, jede:r solle die Freiheit haben, die Religion zu wechseln oder abzulegen. 80 Prozent sind der Meinung, man solle gegenüber anderen Religionen offen sein (im Jahr 2013 waren dies noch 89 Prozent).

Ein gemischtes Bild zeigt sich bei der Frage, wie die religiöse Vielfalt bewertet wird: Hier spaltet sich die Bevölkerung in jeweils ein Drittel, das die Pluralisierung des Religiösen als Bedrohung, als Bereicherung oder ambivalent empfindet. Wie die Untersuchung zeigt, geht eine positive Haltung zur religiösen Vielfalt mit mehr zwischenmenschlichem Vertrauen einher – ein wichtiges Kapital für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wissen und Kontakte bestimmen Umgang mit religiöser Vielfalt

Welche Faktoren bestimmen, wie eine Person religiöse Vielfalt bewertet? Zum einen zeigt sich: Je mehr eine Person glaubt, über das religiöse Leben in Deutschland zu wissen, desto klarer ist ihre Meinung pro oder contra religiöse Vielfalt. „Es kommt hier also auf die Art des selbst zugeschriebenen Wissens an: ob es sachlich ist oder Negativ-Stereotype fortschreibt“, sagt El-Menouar. „Für ein wertschätzendes Miteinander helfen sachorientierte, differenzierte Bildungsangebote. Die mediale Logik, dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, und die Polarisierung in den sozialen Medien wirken hier häufig kontraproduktiv.“

Zudem analysiert die Studie der Bertelsmann Stiftung, wie sich interreligiöse Kontakte auf die Wahrnehmung von Pluralität auswirken. Hier zeigt sich: Persönliche Kontakte in der Freizeit – etwa in Sportvereinen oder kulturellen Begegnungsstätten – bauen Brücken zwischen Angehörigen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften, sind aber sehr unterschiedlich verteilt. Rund 80 Prozent der Muslim:innen haben häufig Freizeitkontakt zu Personen anderen Glaubens. Unter den Christ:innen sind es knapp 37 Prozent.

In der Gruppe derer, die keine interreligiösen Kontakte haben, zeigen weniger als ein Fünftel (19 Prozent) eine positive Sicht auf religiöse Vielfalt. Unter denen, die häufig interreligiösen Kontakt erleben, betrachten 40 Prozent die Pluralität als Bereicherung. „Unsere Studie zeigt, dass interreligiöse Begegnung Vertrauen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken kann“, erklärt Yasemin El-Menouar. „Wir wissen aus der Forschung aber auch, dass dies kein einfacher Automatismus ist. Die persönliche Begegnung baut nur dann Vorbehalte und Vorurteile ab, wenn sie drei Bedingungen erfüllt: Sie muss auf Augenhöhe stattfinden, eine wirkliche Zusammenarbeit einschließen und durch Institutionen unterstützt werden.“

Dialog der Religionen, um Spaltung zu vermeiden

Religiöse Vielfalt ist ein gesellschaftlicher Fakt, den es zu gestalten gilt. „Religiöser Glauben kann die Grundlage für einen vertrauensvollen, positiven Umgang miteinander sein. So zeigt unsere Auswertung, dass Menschen, die häufiger den Gottesdienst besuchen, mehr Vertrauen in andere Menschen haben. Religiöse Differenzen können die Gesellschaft aber auch spalten“, sagt El-Menouar. „Damit sich die positiven Impulse durchsetzen, benötigen wir fundiertes Wissen über das religiöse Leben und Begegnungen auf Augenhöhe. Es ist die Aufgabe von Religionspolitik und Glaubensgruppen, hierfür Plattformen zu schaffen – sonst droht Pluralität in Polarisierung umzuschlagen.“

 

Wir brauchen einen modernen Religionsdialog, der auch die große Gruppe der Nichtreligiösen einbindet und der die bisherige Vorrangstellung der beiden christlichen Volkskirchen überwindet – so wie es der religiösen Vielfalt heute in Deutschland entspricht.

Dr. Yasemin El-Menouar, Religionsexpertin der Bertelsmann Stiftung

Publikation

Zusatzinformation

Die Publikation „Zusammenleben in religiöser Vielfalt. Warum Pluralität gestaltet werden muss“ ist Teil des Religionsmonitors 2023. Die Daten dafür wurden im Juni und Juli 2022 erhoben. Insgesamt wurden 10.657 Menschen in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Polen sowie den USA befragt. In Deutschland haben sich 4.363 Menschen an der Befragung beteiligt. In weiteren Publikationen des Religionsmonitors 2023, die im Laufe dieses Jahres erscheinen, werden die Themen „Muslimfeindlichkeit“, „Antisemitismus“, „Solidarität“ und „Verschwörungsglaube“ näher beleuchtet.

Mit dem Religionsmonitor untersucht die Bertelsmann Stiftung seit 2008 ländervergleichend die Rolle von Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Religionsmonitor 2023 beschäftigt sich mit den Fragen der Religiosität in Zeiten multipler Krisen und der Frage von Vielfalt, Solidarität und Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Die Erkenntnisse der Studien liefern Hinweise für ein gelingendes Zusammenleben. Dafür sollte Religion mitgedacht und eine moderne Religionspolitik gestaltet werden.