In der ersten Migration Zoom Time als digitale Version des erfolgreichen Veranstaltungsformats Migration Lunch Time kam ein breiter Teilnehmer*innenkreis aus Bundesverwaltung, Politik, Verbänden, Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft zusammen, um zu diskutieren, wie sich die COVID-19-Pandemie auf Erwerbsmigration und die Arbeitsmarklage von Migrant*innen in Deutschland auswirkt.
Prof. Dr. Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und dem Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) hielt einen Kurzvortrag, um die Diskussion mit ersten empirischen Ergebnissen anzureichern. Dr. Kolja Rudzio, Redakteur im Ressort Wirtschaft, DIE ZEIT, ordnete die Ergebnisse aus seiner Perspektive ein. Anschließend wurde die Diskussion für den gesamten Teilnehmer*innenkreis geöffnet. Moderiert wurde die Veranstaltung von Dr. Matthias Mayer.
Wichtige Ergebnisse der Diskussion waren die folgenden:
- Migrant*innen sind viermal stärker von der Krise betroffen als Deutsche (gemessen an der Veränderung der Zahl der Arbeitslosen zwischen März und Mai 2020 im Verhältnis zur Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im November 2019 in Prozent). Diese Schlechterstellung schlägt sich vor allem in Reinigungsberufen, im Lebensmittel- und Gastgewerbe sowie in Sicherheitsberufen nieder. Manuelle Tätigkeiten, die nicht im Homeoffice ausgeübt werden können, und interaktive Tätigkeiten sind besonders von der Krise betroffen. Eben in diesen Tätigkeitsfeldern sind überdurchschnittlich Migrant*innen beschäftigt. Der Benachteiligungseffekt wird durch migrationsspezifische Bedingungen, wie unterdurchschnittliche Betriebszugehörigkeit und die Beschäftigung in kleinen Betrieben, weiter verstärkt. Bei einem genaueren Blick auf die Gruppe der Migrant*innen zeigt sich, dass Geflüchtete ganz besonders von den negativen Auswirkungen der Krise betroffen sind und die Gefahr besteht, dass die Integrationsfortschritte der letzten Jahre durch die COVID-19-Krise einen deutlichen Rückschlag erhalten.
- Zu erwarten ist, dass EU-Staatsangehörige in der Tendenz häufiger in ihre Herkunftsländer zurückwandern als Personen aus Drittstaaten. Das hängt damit zusammen, dass Personen mit einem sicheren Aufenthaltsstatus bzw. einem Rückkehrrecht eher geneigt sind, das Land zu verlassen als Personen, die Gefahr laufen, ihr Aufenthaltsrecht durch einen Aufenthalt im Ausland zu verwirken. Wenn Deutschland – wie bei der Finanzkrise – verhältnismäßig gut aus der Krise kommt, kann man davon ausgehen, dass die EU-Migration wieder deutlich zunehmen wird. Dies würde aber hauptsächlich aufgrund der Umlenkung von Wanderungsbewegungen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten geschehen (da andere Zielländer, wie beispielsweise Frankreich und Italien, an Attraktivität verlieren), und nicht durch neue Migration aus den südlichen EU-Staaten. Perspektivisch wird die EU-Migration nach Deutschland jedoch stark abnehmen, da die meisten europäischen Mitgliedstaaten ähnlichen demografischen Entwicklungen entgegensehen wie Deutschland und von einer gewissen ökonomischen Konvergenz auszugehen ist.
- Strukturell wird Deutschland aber auch in Zukunft auf Migration angewiesen sein – wegen fehlenden Passgenauigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und der demografischen Entwicklung. Gegenwärtig sind nur ungefähr 10% der jährlichen Zuzüge aus Drittstaaten zu Erwerbszwecken. Die Weichen müssen jetzt gestellt werden, um die Erwerbsmigration aus Nicht-EU-Staaten perspektivisch zu steigern, damit die zukünftig zurückgehende EU-Migration dadurch zumindest zum Teil kompensiert werden kann. Die Herkunftsstaaten für Migration nach Deutschland werden an Heterogenität gewinnen. Eine Möglichkeit, die Fachkräftemigration aus Drittstaaten zukünftig zu steigern, könnte sein, vom bisher sehr eng ausgelegten Anerkennungserfordernis für ausländische Berufsqualifikationen abzurücken. Derartige Überlegungen werden allerdings durchaus kontrovers diskutiert.
- Eine in Fachkreisen debattierte Hypothese geht davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt weiter polarisieren wird. Dieser Trend ist bereits heute zu erkennen und wird sich – so die Annahme – fortsetzen. Auf der einen Seite würden akademische Qualifikationen weiterhin stark nachgefragt werden und auf der anderen Seite aber auch manuelle Berufe, beispielsweise im Dienstleistungsbereich, die nicht oder nur schwer automatisiert werden können (z.B. Gastronomie und Pflege). Obwohl der Anteil von Facharbeitern an der deutschen Volkswirtschaft perspektivisch sinken wird, werden sie weiterhin das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft bilden. Folglich wird auch Migration in diesem Qualifikationssegment zukünftig gebraucht werden.
- Wenn die Arbeitslosigkeit steigt und die COVID-19-Krise somit weitere Kreise der deutschen Bevölkerung unmittelbar erreicht, ist damit zu rechnen, dass sich in Öffentlichkeit, Medien und Politik eine Debatte über die Verdrängung einheimischer Arbeitskräften durch Migrant*innen entspinnen wird. Es handelt sich aber eher um eine gefühlte als um eine tatsächliche Verdrängung, da der Arbeitsmarkt sehr heterogen ist und viele Stellen nicht ohne Weiteres durch deutsche Arbeitslose substituiert werden können (z.B. in der Gastronomie und der Pflege). Zudem nimmt die Erwerbsmigration in Krisenzeiten stark ab, was das Arbeitsangebot reduziert und somit wiederum als Puffer wirkt und Einheimische schützt. Unternehmen in Deutschland reagieren auf Krisen primär durch ausbleibende Neueinstellungen als mit Entlassungen.