Eine Familie geht am Strand von Malmö in Schweden spazieren. Im Hintergrund sieht man die Öresundbrücke, die nach Kopenhagen führt.

Kommen und Gehen

Wo schrumpft Europa am stärksten, wo wächst es am meisten? Wo leben die jüngsten und wo die ältesten Bürger? Und welche Auswirkungen haben solche Entwicklungen für Städte, Regionen und die Menschen, die darin leben? Wir haben zwei Orte in Europa besucht: die schrumpfende Region Utena in Litauen und die wachsende Region rund um Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen.

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Texte von Anna Butterbrod und Vytené Stasaityté für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 1/2015. Gekürzte Fassungen.

Als wir Prof. Dr. Thorsten Wiechmann, Professor für Raumordnung und Planungstheorie an der TU Dortmund, nach den am stärksten wachsenden und den am stärksten schrumpfenden Regionen in Europa fragten, nannte er uns die boomende Region rund um Kopenhagen und den strukturschwachen Bezirk Utena im Nordosten Litauens. – Wir fuhren an beide Orte. Und trafen auf Menschen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven.

"Es sind zwei Extreme", erklärt Wiechmann, "Kopenhagen ist als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum in einem ohnehin wachsenden Land wie Dänemark und als Brücke zwischen Skandinavien und Mitteleuropa ökonomisch boomend und zieht Wanderung an. Das periphere und strukturschwache Utena in der östlichen Grenzregion Litauens hingegen ist von natürlichen Verlusten als auch von Wanderungsverlusten geprägt." Die Disparität zwischen starken, boomenden Regionen und schwachen, leerlaufenden Regionen nehme zu, "obwohl die EU-Strukturpolitik genau das Gegenteil erreichen will. Da ist keine Trendwende abzusehen."

Was bedeutet das für eine Region wie Utena? "Ein Land wie Litauen tut gut daran, die Regionen, die sich stabilisieren lassen, also Hauptstadtregion und Regionen im Westen des Landes, zu stärken. In den leerlaufenden Gebieten im Osten kann es nur um eine Sicherung von Mindeststandards der Daseinsvorsorge gehen." Doch auch für Kopenhagen sieht der Experte nicht ausschließlich positive Folgen: "Kopenhagen gehört inzwischen zu den teuersten Städten der Welt. Auch eine Folge des Wachstums. Gerade in Boom-Towns gibt es massive Verdrängungsprozesse. Gewinner und Verlierer. Die, die in hochbezahlten Jobs arbeiten und sich Lofts am Wasser leisten können, und die Benachteiligten, die bereits auf dem Bildungsweg scheitern und in einer solchen Stadtgesellschaft keine Chance auf Teilhabe haben."

Magnet der Lebenslust

Eine pulsierende Stadt, die zunehmend junge Menschen anzieht: Radfahrer in der Innenstadt von Kopenhagen. (Foto: Valeska Achenbach)

Die Menschen, die wir rund um Kopenhagen trafen, spiegeln das Wachsen, das Pulsieren, das Wohlbefinden dieser Region wider. Eine ansteckende Aufbruchstimmung.

Da ist zum Beispiel Sharmi Albrechtsen (44). Für die Kanadierin mit indischen Wurzeln bedeutete Glück früher eine Louis-Vuitton-Tasche oder eine teure Designerküche. Dann zog sie vor 14 Jahren der Liebe wegen nach Dänemark – das Land, in dem laut zahlreichen Studien die glücklichsten Menschen der Welt leben. Vom positiven Denken der Dänen ließ sich die PR-Beraterin überzeugen, und nun fließen ihre Endorphine auch beim morgendlichen Sprung in den zwei Grad kalten Öresund oder bei einem Waldspaziergang mit Freundinnen. "Über Geld wird nicht gesprochen", fasst sie die dänische Mentalität zusammen. "Viel wichtiger sind Familie und Freizeit."

Da ist auch Jan-Cayo Fiebig (26), gebürtiger Wiesbadener und Mitgründer der dänischen Mikrofinanzierungsplattform "CodersTrust". Er lebt im "Nest" – Dänemarks erster Start-up-WG, in der 20 Gründerinnen und Gründer aus aller Welt leben, brainstormen, netzwerken oder eine Runde einputten üben auf dem Mini-Green im Flur. Im "Nest" gilt das Motto: "Nichts ist unmöglich, nichts ist zu verrückt. Man kann alles erreichen mit der Hilfe anderer Träumer." Wie Fiebig zieht es verstärkt 20- bis 29-Jährige nach Kopenhagen – Folge einer Stadtentwicklungspolitik, die auf Internationalität setzt und auch auf die Bedürfnisse junger Familien eingeht.

Eine Stadt im Zeichen der Nachhaltigkeit

So wird Kopenhagen zu einem Zentrum der Kreativität: Die Köchin Irina Bothmann etwa gehört zum Gründerteam eines in Dänemark einzigartigen Restaurants. Im "Rub & Stub" in der Altstadt wird mit überschüssigen Lebensmitteln gekocht, die Bauern oder Supermärkte aus der Umgebung spenden. "Seit der Eröffnung im September 2013 haben wir 3,5 Tonnen Essen gerettet", sagt die 35-Jährige.

Auch Star-Architekt Kim Herforth Nielsen setzt auf Nachhaltigkeit. Wenn es nach dem 60-Jährigen geht, werden Häuser in Zukunft aus Abfallprodukten wie Tomatenstielen und Kartoffelschalen gebaut. Dank neuer Technologien verwandeln sich die ungewöhnlichen Zutaten in Material, das hart wie Pressspanplatten ist. Nielsen konstruierte bereits das sternenförmige United-Nations-Hauptquartier im Kopenhagener Hafen und stattete es mit 1.400 Solarzellenplatten, Regenwasser-Toilettenspülungen und einer Meerwasserkühlung aus. "Es ist das nachhaltigste Bürogebäude Dänemarks und kommt mit der Hälfte der Energie aus, die normalerweise nötig wäre."

 "Nachhaltigkeit ist ein großer Markt", weiß Anne Skovbro (46). In Kopenhagen, dessen Verwaltungsdirektorin für nachhaltige Entwicklung sie ist, ist Nachhaltigkeit aber auch ein Konzept. Das ehemals verschmutzte Hafenwasser ist wieder sauber, es werden Naherholungsgebiete und Strände angelegt und Fahrrad-Superhighways geschaffen, die Vororte mit der City verbinden. Große Teile der Innenstadt sind für Autos gesperrt, der Bau großer Shoppingzentren wird seit zehn Jahren unterbunden und so die Existenz kleiner Läden gesichert. Bis 2025 will Kopenhagen als weltweit erste Metropole klimaneutral werden. "Wir machen es den Leuten leicht, nachhaltig zu leben", sagt Anne Skovbro.  98 Prozent der Haushalte hängen am Fernwärmenetz, Elektroautos lassen sich kostenlos an E-Tankstellen aufladen.

Das britische Magazin "Monocle" hat Kopenhagen gerade zum zweiten Mal zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Und die wächst stetig: 560.000 Einwohner sind es momentan, jeden Monat kommen rund 1.000 hinzu.

Wer kann, der geht. Alle anderen müssen bleiben

Typisch für die Region Utena: leerstehende Wohnblöcke, deren Interieur und Fenster gestohlen wurden. Die untere Etage ist inzwischen zugemauert, damit sich nicht weiterhin Menschen Zutritt verschaffen können. Die Zentralheizung, Strom und Wasser sind abgestellt. Die verschuldeten Besitzer dieser Wohnungen sind geflüchtet. (Foto: Christian Gogolin)

In der Region Utena in Litauen ist die Einwohnerzahl im freien Fall. Die jungen Menschen wandern ab. Übrig bleiben die Alten und Armen in einer maroden Infrastruktur.

Es ist nicht etwa so, dass es in der Region an Kultur- und Freizeitangeboten für junge Leute mangele: Die Basketballarena, diverse Sportplätze und die Bibliothek sind frisch renoviert. Von der atemberaubenden Natur in der Umgebung ganz zu schweigen. In der Region gibt es die meisten Seen in ganz Litauen – über 1.000. Doch die jungen Leute lassen sich nicht aufhalten. "Jeder Fünfte ist einfach verschwunden", bestätigt Leonas Rutkauskas (59). Als Beamter des litauischen Innenministeriums ist er vor Ort für die regionale Entwicklung verantwortlich.

Die Statistiken zeigen: Seit dem EU-Beitritt 2004 bis Ende 2013 haben über 21.000 Einwohner die Region Utena verlassen, der Großteil ging ins europäische Ausland. Rutkauskas fasst die größten Probleme zusammen: zu wenig Arbeitsplätze, niedrige Löhne, kaum Investitionen. Der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft verlief alles andere als reibungslos. In den ländlichen Gebieten verfallen stillgelegte Unternehmen, die früher ein gesamtes Dorf ernährt haben. Zwar existieren die meisten noch, doch im Laufe der Modernisierung wurden teilweise neun von zehn Arbeitern vor die Tür gesetzt. "Unsere Aufgabe ist es nicht, Arbeitsplätze zu schaffen. Wie auch?", sagt Rutkauskas. "Uns geht es darum, bestmögliche Voraussetzungen für Investoren und Gründer zu schaffen. Ganz wesentlich ist der Ausbau und die Modernisierung der Infrastruktur. Dies geschieht vor allem mit EU-Geldern."

Ein Dorf wird zu "Zombieland"

Wie dringend renovierungsbedürftig die Infrastruktur ist, zeigt ein Besuch in Didziasalis, dem wohl problematischsten Dorf im zur Region gehörenden Bezirk Ignalina. Die örtliche Ziegelfabrik steht seit 1990 still. Das Gelände erinnert eher an das syrische Aleppo als an ein EU-Land. Jede fünfte Wohnung im Dorf steht leer –  sie waren im Besitz von Weißrussen, die zur Sowjetzeit zur Arbeit in die Fabrik geschickt wurden. Nach Stilllegung kehrten sie zurück in ihre Heimatdörfer. Ihr Eigentum ließen sie einfach zurück.

Die permanent wachsenden Nebenkosten führen bei den noch verbliebenen Eigentümern dazu, dass sie ihre Wohnungen für einen symbolischen Preis an die Stadtverwaltung verscherbeln. Leonas Keturka (57), als Beamter des litauischen Innenministeriums für die regionale Entwicklung vor Ort zuständig, zeigt ein Beispiel: "Diese haben wir für einen Litas gekauft, das sind 29 Cent. Wir versuchen, sie an Bedürftige weiterzuvermieten. Für 6 Euro monatlich. Plus Nebenkosten." So geringe Mietpreise ziehen in erster Linie Sozialfälle und alte Menschen an. Und das schreckt Investoren ab. Ein Teufelskreis.

Als hätte das Dorf nicht schon genug Probleme, haftet ihm seit den Neunzigerjahren ein vernichtender Begriff an: Zombieland. Damals überredeten zwielichtige Immobilienmakler sozial und finanziell gescheiterte Menschen in Vilnius, ihnen ihre städtische Wohnung zu überlassen. Im Tausch gegen Entschuldung und eine kleine Wohnung in Didziasalis. "Wie früher die Enteignungen und Deportationen nach Sibirien. Ganze Busladungen von gescheiterten Menschen trafen über Nacht hier ein. Auf Grund ihres Zustandes, des Alkoholismus und der häuslichen Gewalt wurden sie 'Zombies' genannt." Die Anzahl der Sozialhilfeempfänger stieg rapide.

Schon Kinder sehen kaum eine Perspektive in der Region

Dabei werden in manchen Bereichen Arbeitskräfte händeringend gesucht. "Ich war nur einen halben Tag arbeitslos", freut sich Aidas Kiausas (42). Der ausgebildete Schweißer stand bereits kurz davor, wie viele seiner Kollegen auszuwandern, gab seinen Job auf, wagte den großen Schritt aber dann doch nicht. "Ich hatte Angst, dass ich ohne Englischkenntnisse dort untergehe. Also ging ich zum Amt und schon hatte ich meinen alten Job zurück. Ich verdiene zwar nicht gut, 377 Euro netto, aber ich fühle mich hier wohl. Ich verbringe viel Zeit mit meiner Frau und den Kindern."

Nicht alle Kinder der Region haben das Glück, mit beiden Elternteilen aufzuwachsen. Im Dauniskio-Gymnasium in Utena hat jeder elfte Schüler mindestens einen Elternteil, der seinen Lebensunterhalt im Ausland verdient, einige wachsen sogar ganz allein bei ihren Großeltern auf. Dies beeinflusst die Kinder: Zwar fühlen sie sich der Region verbunden, sie haben aber bereits verstanden, dass sie ihre Zukunft vermutlich nicht in Utena verbringen werden. Jedes Jahr gehen die Schülerzahlen am Dauniskio-Gymnasium um 15 bis 20 Schüler zurück. Auch junge Lehrer rücken kaum noch nach. In Tverecius, im Bezirk Ignalina, steht die örtliche Schule bereits seit acht Jahren leer. "Wenn ich aus meinem Fenster auf die leerstehende Schule blicke, blutet mir das Herz. Nur noch alte Leute und Sozialfälle sind geblieben", seufzt die ehemalige Lehrerin Nijolé Bieliniené (64). Ihr eigener Sohn fährt regelmäßig nach Großbritannien, um dort auf dem Land zu arbeiten.

Junge Leute setzen ein Zeichen gegen den Exodus

Es gibt aber auch positive Beispiele junger Leute, die ihr Leben in der Provinz gestalten. Kasparas Mociûnas (19) hat letztes Jahr noch während des Abiturs mit einem Mitschüler eine Bar in Utena eröffnet. Hierfür unterbrach er sein Studium in Vilnius und kehrte in die Heimat zurück. "Es gibt zwar ein paar Freizeitangebote für junge Leute, eine gute Bar gab es aber nicht. Wir waren schon als Schüler politisch aktiv und auch für längere Zeit im Ausland. Von daher waren uns die Defizite der Region sehr bewusst." Mociûnas kann sich vorstellen, sein Leben hier zu verbringen. Er möchte jungen Leuten zeigen, dass man auch hier ein erfolgreiches Unternehmen gründen kann. Die meisten haben einfach zu viel Angst vor dem Schritt in die Selbständigkeit und ziehen lieber vom Land in die Großstädte.

Den umgekehrten Weg fährt Vaidotas Grigas (34) jeden Morgen. Er lebt mit seiner Familie in der Hauptstadt Vilnius, wo seine Frau als Anästhesistin arbeitet. Er selbst hat vor einigen Monaten die Chefarzt-Position des Krankenhauses im 60 Kilometer entfernten Molétai übernommen. Mit seinen monatlich 1.188 Euro netto zählt er zu den Besserverdienern. Aber obwohl die Krankenhäuser renoviert werden und gut ausgestattet sind, bleibt er ein Einzelfall. "Es ist sehr schwer, junge Ärzte aus der Stadt aufs Land zu locken. Vor kurzem mussten wir uns von dem Leiter der Pflegeabteilung verabschieden. Seine Lizenz wurde nicht verlängert. Na ja, da war er 79 Jahre alt ..."

Grigas selbst möchte dagegen seine Frau sogar überreden, mit ihm und den zwei kleinen Kindern nach Molétai zu ziehen. "Den Sommer werden wir sowieso hier verbringen. Die schöne Natur mit den vielen Seen ist doch perfekt für die Kinder. Vielleicht bleiben wir irgendwann ja ganz hier."

Eine junge Ärztefamilie zieht von der Großstadt in die Provinz? – Ein Lichtblick: Die Hoffnung widersetzt sich dem allgemeinen Exodus … 

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