Die Studie hat für einzelne Musterhaushalte die Höhe der sogenannten effektiven Grenzbelastung untersucht. Dieser Wert gibt an, welcher Anteil eines zusätzlich verdienten Euros, aufgrund von Beiträgen zur Sozialversicherung, Einkommensteuern oder durch den Entzug von Sozialleistungen, wie Wohngeld oder Kinderzuschlag, wieder abgegeben werden müsste. Bei einer effektiven Grenzbelastung von 60 Prozent würden von einem zusätzlich verdienten Euro nur 40 Cent netto übrig bleiben. Im Gegensatz zum Grenzsteuersatz der Einkommensteuer verläuft diese Grenzbelastung aber nicht progressiv. Dadurch werden Zuwächse bei höheren Einkommen tendenziell weniger belastet als bei niedrigen. "Mehr Arbeit und Lohn müssen sich für die Krankenschwester genauso auszahlen wie für den Unternehmensberater. Dass sich mehr Erwerbsarbeit lohnt, ist eines der zentralen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft", kommentiert Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, die Ergebnisse der Studie.
Untere Einkommensgruppen werden am stärksten belastet
Anhand der Musterhaushalte zeigen sich die unterschiedlichen Belastungen: Von einem hinzuverdienten Euro bleibt einem Singlehaushalt mit einem jährlichen Haushaltsbruttoeinkommen von 17.000 Euro nichts übrig. Die Grenzbelastung liegt bei 100 Prozent. Bei einem Bruttoeinkommen von 75.000 Euro verbleiben dagegen 56 Cent in der Haushaltskasse. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Ehepaaren mit zwei Kindern und einem Alleinverdiener: Bei einem jährlichen Bruttoverdienst von 40.000 Euro bleiben von einem hinzuverdienten Euro nur 56 Cent netto übrig. Hingegen kann ein vergleichbarer Haushaltstyp mit einem mehr als doppelt so hohen Einkommen von 90.000 Euro insgesamt 66 Cent behalten. "In einigen Fällen finden wir Grenzbelastungen von über 120 Prozent. Ein hinzuverdienter Euro führt damit zu 20 Cent netto weniger im Portemonnaie", sagt Manuela Barišić, Wirtschaftsexpertin der Bertelsmann Stiftung.
Auch bei Alleinerziehenden fallen die Belastungen insbesondere im unteren Einkommensbereich sehr hoch aus. Bis zur Einkommensschwelle von ca. 23.800 Euro beträgt die Grenzbelastung durchgängig über 60 Prozent. Erst ab knapp 41.000 Euro sinkt sie schließlich auf 44 Prozent.
Reformen müssen Fehlanreize abbauen
Laut Studienautoren muss der Gesetzgeber das Gesamtsystem aus Einkommensteuer, Sozialabgaben und Transferleistungen besser aufeinander abstimmen, um Anreize für mehr Erwerbsarbeit zu schaffen. Die in der politischen Debatte häufig geforderte Abschaffung des "Mittelstandsbauches", um die sprunghaft steigende Belastung für untere Einkommensgruppen aufzuheben, ist aus Sicht der Autoren nur bedingt geeignet: Zwar könnte die Abflachung zu einer höheren Beschäftigung führen, würde aber auch die Einkommensungleichheit erhöhen, da von der Entlastung insbesondere hohe Einkommen profitieren würden. Mit gut 37 Milliarden Euro wäre diese Reform zudem mit erheblichen Einnahmeverlusten für die öffentlichen Haushalte verbunden.
Sinnvoller wäre es hingegen, die unterschiedlichen Transferleistungen, wie Kinderzuschlag, Wohngeld und Arbeitslosgengeld II besser aufeinander abzustimmen. Kombiniert mit einer konstanten Transferentzugsrate von 60 Prozent könnte dies zu positiven Beschäftigungseffekten und weniger Einkommensungleichheit führen. Auch die Umstellung des Ehegattensplittings auf ein Realsplitting mit übertragbaren Freibeträgen könnte diese positiven Effekte verstärken. Dadurch würden Ehepartner im Grundsatz individuell besteuert. Eine solche Reform des Ehegattensplittings würde sich zudem mit knapp 5,6 Milliarden Euro positiv auf die öffentlichen Haushalte auswirken. "Die Umwandlung zu einem Realsplitting würde insbesondere für Frauen und Mütter Fehlanreize abbauen und ihre Erwerbsbeteiligung erhöhen", so Manuela Barišić.
Zusatzinformationen
Für die Studie "Grenzbelastungen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem: Fehlanreize, Reformoptionen und ihre Wirkungen auf inklusives Wachstum" haben Wissenschaftler des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) das Zusammenwirken des deutschen Steuer-, Abgaben- und Transfersystems und damit die Belastungswirkungen im Status Quo untersucht. Darauf aufbauend wurden Reformszenarien analysiert, die das Steuer-, Abgaben- und Transfersystem zum einen anreizkompatibler gestalten und zum anderen einen Beitrag zu inklusivem Wachstum leisten sollen. Die Reformszenarien wurden im Hinblick auf ihre Wirkungen auf Beschäftigung, auf das verfügbare Einkommen, Einkommensverteilung und die öffentlichen Haushalte mithilfe des ZEW-Mikrosimulationsmodells untersucht, das auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) basiert.
Kurz erklärt: Unterschied zwischen Grenzbelastung und Grenzsteuersatz
Die effektive Grenzbelastung gibt an, welcher Anteil eines zusätzlich verdienten Euros, aufgrund von Beiträgen zur Sozialversicherung, Einkommensteuern oder durch den Entzug von Sozialleistungen, wie Wohngeld oder Kinderzuschlag, wieder abgegeben werden müsste. Damit wirkt sie auf den Anreiz zu (Mehr-)Arbeit. Die Sprungstellen (das plötzliche Ansteigen der Grenzbelastung) und die allgemein hohe effektive Grenzbelastung im Sozialbereich sanktionieren größere Anstrengungen und zementieren soziale Spaltung. Damit ist die progressive Wirkung des Einkommensteuertarifs bei der Betrachtung der Grenzbelastung kaum noch spürbar.
Der Grenzsteuersatz gibt an, wieviel von einem zusätzlich verdienten Euro an Einkommensteuer gezahlt werden muss. Im Gegensatz zur effektiven Grenzbelastung, wird bei diesem Konzept die Einkommensteuer isoliert betrachtet. Grenzsteuersätze steigen in Deutschland mit steigendem Einkommen bis zum Spitzensteuersatz. Deshalb spricht man auch von einem progressiven Steuersystem – höhere Einkommen müssen einen höheren Anteil ihres Einkommens an Steuern zahlen.