"Gemaltes Bild auf einer Wand in Detroit. Darauf sind Arbeitern bei Ihrer Tätigkeit in einer Autofabrik zu sehen"
Bertelsmann Stiftung

Kommentar, 10.01.2017: Normal war gestern: Über das Normalarbeitsverhältnis

Im Arbeitskontext ist häufig von Normalarbeitsverhältnissen die Rede, im Kontrast zu atypischer Arbeit. Zugeschnitten ist die deutsche Arbeitsmarktpolitik vor allem auf die Normalarbeit. Studien zeigen aber, dass Arbeit immer heterogener wird und atypische Beschäftigung zunimmt. Ist die Orientierung am Leitbild der Normalarbeit damit überholt?

 

Stetiger Wandel ist ein wesentliches Merkmal der Wirtschaft. Aktuell treiben vor allem Digitalisierung, Migration, Globalisierung und die Veränderung der Altersstruktur den wirtschaftlichen Wandel in Deutschland voran. Dieser Wandel wirkt sich auch auf die Art und Weise aus, wie gearbeitet wird. So entstehen neue Beschäftigungsformen und Berufe, andere verlieren hingegen an Relevanz. Die politische Rahmung des Arbeitsmarktes sollte diesen Wandel begleiten. Von Zeit zu Zeit ist eine Überprüfung und Aktualisierung der Leitbilder, mit denen in der Politik notwendigerweise gearbeitet wird, demnach ratsam.

Das Normalarbeitsverhältnis ist das aktuell vorherrschende Leitbild in der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Es beschreibt die unbefristete Anstellung in Vollzeit und ist mit einer vollständigen Inklusion in die Sozialversicherungssysteme verbunden. Der Begriff geht zurück auf Ullrich Mückenberger und ist seit den 1980ern im öffentlichen Diskurs zu finden. Einige Institute nennen als weiteres Merkmal die Identität von Arbeit- und Weisungsgeber. Leiharbeit sei demnach kein Normalarbeitsverhältnis. Andere, darunter die Gewerkschaften, führen als weiteren Charakterzug ein Einkommen in subsistenzsichernder Höhe an. Diese unterschiedlichen Definitionen begründen die variierenden Zahlen zur empirischen Relevanz des Normalarbeitsverhältnisses: Während die einen das Normalarbeitsverhältnis auf dem Rückzug sehen, sind andere von seiner anhaltenden Dominanz überzeugt.

Unumstritten ist hingegen das Aufstreben atypischer Beschäftigung. Lag ihr Anteil 1991 noch bei 14%, waren 2015 schon 23% aller abhängig Erwerbstätigen atypisch beschäftigt (Quelle: Daten des Mikrozensus, eigene Berechnungen). Besonders nach 2005 stieg ihr Anteil an. Atypische Beschäftigung bezeichnet dabei sämtliche Arbeitsformen, die nicht als Normalarbeitsverhältnis kategorisiert werden. Dazu gehören Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, geringfügige Beschäftigung und je nach Definition auch Leiharbeit. Die am häufigsten auftretende Form atypischer Beschäftigung ist die Teilzeitarbeit. Atypische Beschäftigung betrifft dabei meistens Frauen. Aber auch Männer sind häufiger als früher in atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu finden.

Aus arbeitsmarktökonomischerPerspektive kann atypische Beschäftigung eine Sprungbrettfunktion einnehmen und Geringqualifizierten oder Berufseinsteigern den Zutritt zum Arbeitsmarkt erleichtern. Sie ermöglicht auch ein flexibleres Reagieren der Unternehmen auf Marktschwankungen, ohne dass Kündigungen ausgesprochen werden müssen.

Es gehen aber auch einige Risiken mit ihr einher. Sie ist meist niedriger entlohnt als Arbeit im Normalarbeitsverhältnis. Zudem werden oft weniger Stunden gearbeitet als in Vollzeit. Demnach ist das Arbeitsarmutsrisiko in atypischer Beschäftigung höher. Einen empirischen Beleg für die steigende Arbeitsarmut in Deutschland liefert auch der entsprechende Länderbericht im Social Justice Index  der Bertelsmann Stiftung.

Ein weiteres Risiko atypischer Beschäftigungsverhältnisse ist deren mangelnde Inklusion in die Sozialversicherungssysteme. Das konkrete Absicherungsniveau variiert je nach Beschäftigungsform. Unstete Beschäftigung und mangelnde Absicherung gehen dabei oft Hand in Hand. Da atypische Beschäftigung gesellschaftlich ungleich verteilt ist, könnte dies zu einem strukturellen Versagen der Sozialversicherungssysteme und damit auch zu sozialen Spannungen führen.

Heterogenere Arbeit fordert heterogeneres Denken

Wenn weiterhin am Leitbild der Normalarbeit festgehalten wird, werden diese Risiken politisch nicht bearbeitet - bei 7,5 Millionen Beschäftigten (Quelle: Daten des Mikrozensus)in 2015 keine gute Idee. Auch wenn sie atypisch genannt wird, ist diese Beschäftigungsform für einen großen Teil der erwerbstätigen Bevölkerung längst die normale Beschäftigungsform. Arbeit weiterhin nur als Normalarbeitsverhältnis zu betrachten würde der gesellschaftlichen Realität bei Weitem nicht gerecht werden, es hieße sich selbst Scheuklappen anzulegen.

Durch die Ausdifferenzierung von Arbeit ist das Normalarbeitsverhältnis als einziges sozialpolitisches Leitbild mehr als fragwürdig. Zu oft wird atypische Beschäftigung durch die Sozialversicherungen nicht adressiert. Dieses strukturelle Versagen des Sozialversicherungssystems kann nur behoben werden, wenn die verschiedenen Formen atypischer Arbeit  als sozialpolitische Leitbilder ebenso bedacht werden wie das Normalarbeitsverhältnis. Leitbilder bleiben zwar nach wie vor idealtypische Konstrukte, doch deren Aktualisierung und Nähe zur Empirie führt zu einer besseren Politik.

Autorin: Li Kathrin Kaja Rupieper