Bertelsmann Stiftung: Nach der Wahl sprechen viele Kommentatoren von einer "Zäsur" oder "enormen Umbrüchen" in der österreichischen Parteienlandschaft — Was ist passiert?
Klaudia Wegschaider: Der Rechtsruck in Österreich hat sich durch die bisherigen Erfolge der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) schon lange angedeutet. Diesmal kommt noch ein inhaltlicher Rechtsruck bei der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) hinzu, der vonseiten der Wähler offenbar belohnt wurde. Zugleich schaffen die Grünen nach mehr als 30 Jahren im Parlament nicht den erneuten Einzug — damit geht der österreichischen Parteienlandschaft auch ein kritisches Gegengewicht gegen den Rechtspopulismus verloren.
Das unterschiedliche Abschneiden der Parteien, gerade der Grünen und der ÖVP, lässt sich auch anhand einiger weitreichender Personalentscheidungen erklären: Im Mai hatte Außenminister Sebastian Kurz die Spitze der ÖVP übernommen und ihr Image von Grund auf geändert. Genau genommen stand diesmal nicht ÖVP, sondern "Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei" auf dem Stimmzettel. Aus der Parteifarbe Schwarz wurde Türkis. Inhaltlich verschob sich die Partei weit nach rechts. Die "neue Volkspartei" positioniert sich kritisch gegenüber Einwanderung und europäischer Integration. Ein Beispiel: Laut Wahlprogramm will die ÖVP bei der EU eine Rückkehr zur Gründungsidee der Wirtschaftsunion bewirken.
Während sich die Personalentscheidungen und inhaltlichen Verschiebungen bei der ÖVP mit Blick auf das Wahlergebnis ausgezahlt haben, führten Streitigkeiten bei den Grünen parteipolitisch geradezu in eine Katastrophe: Nach einem öffentlich ausgetragenen Zwist mit den Jungen Grünen, dem plötzlichen Rücktritt von Parteichefin Eva Glawischnig sowie der Abspaltung des langjährigen Parlamentariers Peter Pilz, starteten die Grünen geschwächt in den Wahlkampf. Erreichten sie bei der Nationalratswahl 2013 noch ihr bestes Ergebnis, so haben sie nach derzeitigem Stand die Vier-Prozenthürde für den Einzug ins Parlament verfehlt (3,8 Prozent Stimmenanteil). Nach mehr als 30 Jahren im österreichischen Parlament ist dies ein tiefer Einschnitt in die Parteienlandschaft des Landes und ein herber Rückschlag für die Grünen. Ihren Platz als viertstärkste Kraft im Parlament nimmt nun die liberale Partei NEOS ein. Außerdem gelang der Liste Pilz des ehemaligen Grünen-Abgeordneten Peter Pilz nur wenige Monate nach ihrer Gründung prompt der Einzug in den Nationalrat.
Die SPÖ hat ihr Ergebnis gehalten, steht aber neben den Grünen als großer Verlierer da. Müssen die Sozialdemokraten neue Wählergruppen erschließen, um zukünftig am Regierungstisch noch eine Rolle spielen zu können?
Das ziemlich konstante SPÖ-Ergebnis von 26,9 Prozent (2013: 26,8) täuscht über tiefe Veränderungen ihres Wählerprofils hinweg. Hier sind vor allem drei Wanderungen zu nennen: der Gewinn ehemaliger Grünen-Wähler, die Mobilisierung von Nichtwählern und die Verluste an die FPÖ.
Einer der größten Wählerströme dieser Wahl verlief von den Grünen zur SPÖ. Dahinter steckt vermutlich eine Kombination von Faktoren – unter anderem die Enttäuschung über die Grünen in den Monaten vor der Wahl sowie die taktische Entscheidung, die FPÖ als zweitstärkste Kraft zu verhindern. Aber auch allgemein lässt sich sagen, dass der Spitzenkandidat und derzeitige Kanzler Christian Kern andere Wählergruppen anspricht als noch sein Vorgänger Werner Faymann.
Bei einem Blick auf die Wahltagsbefragungen in Österreich wird deutlich: Das Wählerprofil der Sozialdemokraten ist sozio-ökonomisch gehobener als noch 2013. Denn gewinnen konnte die SPÖ vor allem bei Wählern mit Abitur sowie mit Universitätsabschluss. Während die Partei 2013 bei den Universitätsabsolventen nur neun Prozent erreichte, ist ihr Anteil bei dieser Gruppe nun auf 31 Prozent angewachsen.
Noch bedenklicher für die SPÖ ist aber, dass sie ihren Rang als Arbeiterpartei klar an die FPÖ verspielt hat. Jahrzehntelang waren die Arbeiter eine Kernwählergruppe der Sozialdemokraten. Laut Wahltagsbefragung haben diesmal jedoch 59 Prozent der Arbeiter die FPÖ gewählt – im Jahr 2013 waren dies mit 33 Prozent noch deutlich weniger. Die FPÖ hat sich in diesem Wählermilieu also eindeutig etabliert und sich in der bisherigen Zwei-Parteien-Landschaft Österreichs als dritte Kraft festgesetzt.
Die Wahlbeteiligung ist in Österreich, ähnlich wie zuletzt in Deutschland, gestiegen. Wem hat das am meisten genützt?
Eine hohe Wahlbeteiligung signalisiert nicht nur ein hohes Interesse am politischen Prozess, sondern führt auch meist zu sozial repräsentativeren Ergebnissen. Laut aktuell vorliegenden Daten ist die Wahlbeteiligung im Vergleich zur Nationalratswahl 2013 um 4,5 Prozentpunkte auf 74,9 Prozent gestiegen. In Anbetracht der starken Zugewinne bei der ÖVP (+7,6 Prozentpunkte) und bei der FPÖ (+5,5 Prozentpunkte) denkt man zuerst, dass vor allem diese Parteien Nichtwähler mobilisieren konnten. Aber so einfach ist es nicht: Bei der Nationalratswahl 2013 sind mit den rechtskonservativen Parteien Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) und dem Team Stronach noch zwei Parteien angetreten, die diesmal nicht zur Wahl standen. Deren Wähler, die zusammen einen Stimmenanteil von mehr als 9 Prozent ausmachten, haben sich zu großen Teilen für die ÖVP und FPÖ entschieden.
Diese Wanderungen zwischen Parteien waren auch ein wichtiger Faktor für den Wahlerfolg der ÖVP. Insgesamt konnte die ÖVP mehr Wähler gewinnen, die 2013 noch eine andere Partei gewählt hatten - insbesondere FPÖ -, als sie Nichtwähler mobilisieren konnte. Angesichts dieser hohen Binnenwanderungen wird sich in den kommenden Jahren zeigen, ob sie diese Wähler auch halten kann.
Quellen zu den Wahlergebnissen und zur Wählerwanderung 2017 und 2013:
- Bundesministerium für Inneres: Vorläufiges Ergebnis der Nationalratswahl 2017